Augenblicklich ewig
dennoch nicht«, gab er erschöpft zu, während er ihre zärtlichen Berührungen genoss.
»Wie genau es funktioniert, weiß ich auch nicht, aber ich werde dir alles erzählen, was ich herausgefunden habe.« Sie ließ ihn los und setzte sich neben ihn auf die Bettkante, den Rücken an den Bettpfosten gelehnt. Um sie besser sehen zu können, tat er es ihr nach und stützte seinen Rücken am gegenüberliegenden Pfosten ab. Er sah ihr in die Augen, konnte kaum erwarten, ihre Geschichte zu hören. Auch wenn er sicher war, vieles davon würde so unglaublich klingen, dass er es kaum begreifen können würde. Er war jedoch willens, es zu versuchen. Um einen Rückzieher zu machen, war er bereits viel zu weit gegangen und hatte sich zu sehr auf Polly eingelassen.
»An das Leben oder eher das Sterben«, ein kleiner trauriger Schleier huschte über ihre Miene, »von dem du geträumt hast, erinnere ich mich kaum. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es nicht unser letztes Leben war, sondern schon unser vorletztes. Oder daran, wie ich gestorben bin...«, Polly war sichtlich bemüht, sich von den Erinnerungen an ihren frühen Tod nicht überwältigen zu lassen. Sam konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, sich an das eigene Sterben zu erinnern. Allerdings hatte sein Traum ihm einen kleinen Hinweis darauf gegeben, wie schrecklich es war.
»Im Grunde weiß ich nicht viel mehr als du, es sind nur bruchstückhafte Erinnerungen, wie aus einem Traum. Wir waren ein Paar und sehr verliebt ...« Sie lächelte versonnen. »Als die Walpurgisnacht von Mendelssohn Bartholdy in der Sing-Akademie Premiere feierte, waren wir unter den Gästen. Das war 1833, du kannst es nachlesen, wenn du möchtest.«
Er schüttelte leicht den Kopf. Er würde das Datum nicht überprüfen.
»Wir waren aufgeregt und freuten uns sehr. Es war ein traumhafter Abend. Ich trug dieses wunderschöne dunkelrote Seidenkleid.« Polly war vollkommen in der Erinnerung an diesen Abend versunken und schien Sam kaum noch wahrzunehmen. Er jedoch wusste, wovon sie sprach. Er hatte das Kleid bereits mehrfach vor dem inneren Auge gesehen.
Polly blinzelte und sah ihn wieder an. »Kurz darauf wurden wir krank, ich viel schneller als du. Ich fühlte mich schrecklich und die Tatsache, dass du ebenfalls leiden musstest, machte es noch viel schlimmer. Das ist meine letzte Erinnerung an dieses Leben.« Sie sah ihn lange an, auch er schwieg, schließlich griff er nach ihrer Hand und räusperte sich. Als ihre Finger sich trafen, blitzte das Bild von Polly mit blasser Haut und großen Augen vor ihm auf, dann war er zurück im Hier und Jetzt.
»Im Traum bist du blass und rührst dich nicht. Du siehst mich an, aber ich kann dich nicht berühren, weil ich zu schwach bin. Mehr sehe ich nie. Du bist gestorben und ich glaube, ich habe die Krankheit ebenfalls nicht überlebt. Mein Körper war viel zu geschwächt, um sich zu erholen.« Er wunderte sich über sich selbst. Da saß er nun und sprach mit Polly über ein früheres Leben, obwohl er bis vor wenigen Stunden nicht einmal daran geglaubt hatte und es noch vor Tagen für unmöglich gehalten hätte.
»Dann wären wir beide jung gestorben.«
Er strich ihr zum Trost mit dem Daumen über den Handrücken. »Wie ging es weiter?«
Polly Augen hellten sich auf und sie lächelte. »An unser letztes Leben erinnere ich mich sehr gut. Ich bin am 31. Oktober 1846 geboren. Hier in Berlin. Ich wuchs bis zu ihrem Tod bei meinen Eltern auf. Danach kam ich zu meinem Onkel.«
»Genau wie ich heute.«
Sie nickte und fuhr fort, während sie auf ihre verschlungenen Hände schaute und den Erinnerungen nachspürte. »Ich wusste immer, ich suche etwas, aber nicht, was es war. Mein Onkel schickte mich zu einer Haushaltsschule und ich war die ordentlichste Schülerin meiner Klasse. Die Ordnung beruhigte mich, aber das Gefühl, zu suchen, hörte niemals ganz auf.«
Sam nickte, er wusste, von welchem Gefühl sie sprach.
»Je älter ich wurde, desto mehr Erinnerungen kamen zurück. Auch wenn ich es heute nicht mehr weiß, müssen es damals mehr gewesen sein. Vielleicht konnte ich nicht beide Leben komplett in dieses Leben mitnehmen. Mit fünfzehn wusste ich, wen ich suchen musste, und ungefähr mit zwanzig, ich arbeitete damals als Sekretärin in einem großen Haus, auch warum. Nach und nach war mir alles wieder eingefallen. Unser gesamtes Leben. Damals war es für Frauen noch schwerer als heute, alleine im Leben zu stehen. Mein Onkel drängte mich, zu
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