Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
meinen Ohren, meiner Zunge und meiner Nase zu ziehen. Aber selbst ohne die bescheuerten falschen Fingernägel wäre es unmöglich, denn meine Bewegungen sind immer noch vollkommen unkoordiniert. Ich habe es immer noch nicht geschafft, wieder ganz in meine Finger zu schlüpfen. Zuerst versuche ich mich an dem Zungenpiercing. Es tut furchtbar weh, denn das Piercing ist mit einem Drehverschluss befestigt, und ich fühle mich, als hätte ich Krebsscheren an meinen Händen. Ich habe es gerade geschafft, die Hälfte der Stecker aus meinen Ohren zu pulen, als es an der Tür klopft.
»Anna?« Reis Stimme klingt zögerlich.
Als ich aufblicke, sieht er mich so vorsichtig an, als ob er Angst hat, dass er mich stört, oder als ob ich vielleicht sauer auf ihn sein könnte. Ich kann nicht mehr fliegen, also hieve ich mich aus dem Bett. Nach drei Schritten fühle ich, wie er seine Arme um meine Hüfte legt, meine Füße vom Boden abheben und er mich in der Luft herumwirbelt.
Ich hatte mir selbst geschworen, nicht zu weinen, wenn ich ihn wiedersehe. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Es hört sich an, als würde er auch weinen, also ist es okay. Irgendwann zwischen all den Tränen hebt er mich hoch, so wie er es mit Taylor gemacht hat, und trägt mich zum Bett. Ich habe Angst, dass er mich wie Taylor einfach fallen lässt. Aber stattdessen setzt ersich vorsichtig hin, lehnt sich gegen das Kissen und hält mich auf seinem Schoß fest. »Es tut mir leid«, flüstert er immer wieder in meine Haare hinein. »Es tut mir so leid!«
»Hör auf!«, schluchze ich an seiner nassen Schulter. »Sag nie wieder, dass dir etwas leidtut!«
Er lässt sich in das Kissen zurücksinken. Jetzt sind unsere verheulten Augen auf einer Höhe. Er flüstert: »Du hast gesagt, dass es riskant ist. Aber ich dachte, du übertreibst, aus Angst, dass sie mich erwischen. Mein Gott, Anna«, er schluckt ein Schluchzen herunter, »im Krankenwagen haben sie den Defibrillator rausgeholt. Sie dachten, du würdest es nicht schaffen.«
»Aber ich habe es geschafft. Und du konntest nicht wissen, wie schlimm es sein würde – ich wusste es selbst nicht.« Ich sehe ihm direkt in die Augen, damit er weiß, dass es mir gut geht. Uns geht es gut. Alles ist gut.
»Ich hätte auf dich hören sollen«, beharrt Rei. »Als ich Taylor gestern geküsst habe, dachte ich, dass sie ohnmächtig wird, wenn ich nur lange genug auf ihre Halsschlagader drücke. Aber es hat zu lange gedauert, und ich hatte Angst, dass sie meinen Plan durchschaut. Ich dachte, dass die Erdnussbutter-Cupcakes eine … «
»Schhh.« Ich schlinge ganz fest die Arme um ihn. »Es ist vorbei, Rei, und es hat funktioniert. Hör auf, dir Gedanken zu machen.«
Er nimmt mich ganz fest in den Arm und mit einem zittrigen Seufzer der Erleichterung fallen seine Sorgen von ihm ab. Wir bleiben eine halbe Ewigkeit so sitzen, und ich muss die ganze Zeit daran denken, wie gut es sich anfühlt, wieder berührt zu werden. Sein Nacken duftet süß und sein Atem wärmt meineWange. Von Zeit zu Zeit reibt er meinen Rücken oder fährt mit dem Kinn über meine Haare, so als wolle er sichergehen, dass ich wirklich da bin.
Bevor ich meinen Körper verloren habe, gab es nur eine Person, die mich wirklich berührt hat, und das war Saya. Mein Vater hat mich nie angefasst, außer, um meinen Arm zu packen und zuzudrücken. Meine Mutter hatte immer gerade frisch Lippenstift aufgetragen, wenn sie aus dem Haus gegangen ist. Von ihr bekam ich meistens nicht einmal einen Abschiedskuss. Rei hat mich fast immer nur liebevoll am Nacken berührt.
Aber als wir Kinder waren, haben wir uns die ganze Zeit berührt: Wir haben miteinander gerungen, uns unerbittlich gekitzelt oder den anderen als Kopfkissen oder Fußstütze benutzt. Bevor Saya geboren wurde, hat Yumi Rei zum Einschlafen immer den Rücken gerieben, also haben wir das ganz selbstverständlich auch gemacht. Rei hat mir Spiele beigebracht: Mit unseren Fingern zeichneten wir Schatzkarten auf den Rücken des anderen. Ein X markierte den Punkt, an dem der Schatz lag. Oder er zeichnete in der Mitte meines Rückens Kreise, die immer kleiner wurden. Dann tat er so, als würde er eine Schnur aus der Mitte des Kreises ziehen, und es fühlte sich an, als würde er meine Körpermitte aus mir herausziehen. Als wir ungefähr elf Jahre alt waren, kam Yumi ins Zimmer und entdeckte uns beide ohne T-Shirt . Ich beschmierte gerade Reis Rücken mit Creme. Es wäre untertrieben zu sagen, dass sie nicht
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