Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Fähigkeiten kommen ganz von selbst zu dir, Anna. Das ist ein Geschenk.«
Ich wünschte, ich hätte eine Kamera dabei. Rei hat einen Ausdruck liebevoller Bewunderung auf dem Gesicht und ich will mich daran für immer erinnern. Ich betrachte unsere verschmolzenen Hände: Fleisch und Geist in Berührung. Ich will ihn nicht enttäuschen, aber er sollte die Wahrheit erfahren.
Ich weiß nicht, ob ich all diese Dinge noch machen kann, wenn ich meinen Körper zurückhabe.
Ich weiß noch nicht einmal, ob ich meinen Körper jemals zurückbekommen werde.
Das schreibe ich allerdings lieber nicht, aber Rei scheint sowieso zu wissen, was ich denke. »Was auch immer es kostet,wir werden es schaffen, dass sie deinen Körper verlässt, Anna. Und wenn du deinen Körper zurückhast, werde ich meiner Mutter furchtbare Kopfschmerzen bereiten, und dann kannst du ihr zeigen, was du draufhast.«
Darüber muss ich lachen. Rei hat Yumi in dieser Woche schon mehr Kopfschmerzen verursacht als je zuvor in seinem Leben. Ich höre ihm furchtbar gerne dabei zu, wenn er nette Dinge über mich sagt, aber Rei muss noch seine Arbeit für die Schule schreiben. Also mache ich mich daran, ihm zu helfen. Zwei Stunden später weiß ich immer noch nicht, warum die Entscheidung der Wahlmänner wichtiger ist als die Stimme des Volkes, und frage mich, was die Gründerväter getrunken haben, als sie die Idee hatten, ein Wahlmännerkollegium einzuführen. Nach einer Weile verabschiede ich mich und gebe vor, dass ich nach Taylor schauen muss. Ich muss in Geschichte auch eine Arbeit abgeben. Vielleicht habe ich Glück und Taylor macht endlich mal was Nützliches, wie zum Beispiel meine Hausaufgaben.
Zu Hause ist alles ruhig. Meine Mutter ist heute Abend bei einem Immobilienmakler-Bankett und mein Vater liegt in seinem Sessel. Das blaue Flimmern des Fernsehers spiegelt sich in einem geisterhaften Grün im Weiß seiner Augen. Er führt das Glas zum Mund, trinkt, schluckt und kratzt sich an Orten, die ich lieber nicht erwähnen will. Dann stellt er sein Glas wieder auf dem Wasserzeichen ab, das sich in Hunderten von solchen Tagen und Nächten in den billigen Holztisch eingeätzt hat.
Mein Schlafzimmer ist mir fremd geworden. Taylor hat all meine Sachen durch ihre ersetzt. Das große gelbe Pokémon-Pikachu-Kissen, das Rei mir zu meinem zehnten Geburtstaggeschenkt hat, ist verschwunden. Auf meinem Bett liegt eine scheußliche, lavendelfarbene Daunendecke. Taylor sieht aus, als sei sie hier zu Hause, so wie sie auf meinem Bett sitzt und einen Artikel aus einem Modemagazin liest. Neben ihr liegt eine offene Tüte Chips und eine fast leere Flasche Wodka.
Das tut meinem vererbten Alkoholiker-Gen sicher nicht gut. Ich schwebe unsichtbar in der Ecke und beobachte sie dabei, wie sie gelangweilt eine Seite nach der anderen umblättert und Wodka trinkt. Als sie den letzten Schluck nimmt, murmelt sie das F-Wort und schnaubt verärgert.
Sie starrt eine Weile auf die Tür, dann steht sie schließlich widerwillig auf. Die Auswahl an Klamotten in meinem Schrank ist mir vollkommen fremd. Sie greift ganz selbstverständlich nach einem kurzen, glänzenden Leoparden-Morgenrock, schlüpft hinein und knotet den Gürtel locker um die Taille. Dann zieht sie die Haare aus dem Kragen, öffnet die Schlafzimmertür und bewegt sich in Richtung Küche.
Mein Vater beachtet nichts und niemanden. Für ihn existieren nur sein Glas und der Fernseher. Taylor schleicht sich in die Küche. Während sie auf Zehenspitzen an ihm vorbeitrippelt, beobachtet sie ihn argwöhnisch. Unter der Küchenspüle sind Putzmittel und Alkoholflaschen verstaut. Meine Mutter, dieses hilfsbereite Wesen, hat sie dort versteckt. Sie hat vor Jahren beschlossen, dass es das Leben der Rogans deutlich erleichtert, wenn immer ein paar Flaschen von »Papas Saft« im Haus sind. Also kauft sie kastenweise Alkohol. Taylor öffnet ganz leise den Schrank. Aber als sie eine Flasche Whiskey herauszieht, klirrt Glas gegen Glas.
Mein Vater ist für nichts auf dieser Welt verantwortlich außerfür diese Flaschen. Ich habe mal gelesen, dass eine Mutter selbst aus dem tiefsten Schlaf aufwacht, wenn ihr Baby wimmert. Vielleicht hat mein Vater also doch irgendwelche väterlichen Instinkte, nur eben nicht für mich. Er horcht plötzlich auf und dreht sich langsam zu Taylor. Mein Haus ist so klein – man kann sich dort einfach nicht verstecken.
Ich sehe, wie Taylor vorsichtig den Schrank wieder schließt und die Flasche hinter ihrem
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