Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
Rathaus und
Grunerstraße war sein Wagen geparkt. An der Spandauer Straße waren die
Fußgängerampeln ausgeschaltet, was das Überqueren der Straße zu einer wahren
Herausforderung werden ließ. Der ständige Verkehrsstrom riss nicht ab.
Schließlich tat sich eine Lücke auf.
Hanson fühlte sich wie gemartert, als er sich
erleichtert in seinen Wagen fallen ließ und befreit durchatmete. Es war das
heißeste Eisen, das er jemals geschmiedet hatte. Aber die Aurora-Protokolle
befanden sich in seinem Besitz, endlich. Als wollte sich Hanson davon nochmals
vergewissern, griff er in die Brusttasche seines Mantels. Er fühlte sie und
widerstand der Versuchung, einen Blick darauf zu werfen. Es hatte auch keinen
Zweck, er konnte kein Russisch und die kyrillischen Schriftzeichen schon gar
nicht entziffern. So musste er sich notgedrungen gedulden und nach Kiel
zurückfahren, um sie vom Dolmetscher übersetzen zu lassen. Und das hieß warten
und Hanson hasste das Warten. Es war wider seine Natur, war er doch die lange
Fahrt nach Kiel zur Untätigkeit verdammt. Mit einem Auto, des nachts, auf
fremden Terrain bei schlechter Sicht, unterwegs zu sein war nicht sein Ding.
Hanson fühlte sich nicht wohl. Wie Finger tasteten sich die Scheinwerfer seines
Autos durch den Nebel. Vorsichtig lenkte er seinen Wagen nach links in die
Karl-Liebknecht-Straße und dann immer geradeaus in Richtung Westen. Im
Kreisverkehr des Ernst-Reuter-Platzes fuhr er eine Abfahrt zu früh ab. Als dann
das Schloss Charlottenburg rechts an ihm vorbeihuschte, wurde ihm sein Fehler
bewusst. „Mist“, fauchte er und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
„Wie verdammt noch mal komme ich nur auf die Stadtautobahn A 100?“ Es half
nichts, er musste jemanden fragen.
Rechts voraus schien eine Apotheke
Nachtbereitschaft zu haben. Schemenhaft glaubte Hanson zu erkennen, wie der
Apotheker eine Schachtel Tabletten durch die Klappe der Eingangstür an eine
junge Frau reichte. Hanson nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen ausrollen.
Der Apotheker blieb hinter der geschlossenen Glastür ängstlich stehen und
musterte misstrauisch seinen neuen Kunden, der mit müden Schritten auf ihn zu
schlich.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Eine Packung Traubenzucker, die mich wach hält.
Ich muss noch weiter nach Kiel“, antwortete Hanson.“
„Wenn Sie wach bleiben müssen, empfehle ich
Ihnen Koffeinschokolade“.
„Gut, dann eben die Schokolade. Und bitte, wie
komme ich zur A 100“.
„Ganz einfach, immer geradeaus und dann auf die
111 in Richtung Flughafen Tegel und weiter nordwärts. Dann können Sie die A 10
nicht verfehlen“, erklärte der Apotheker, als er Hanson die flache Dose
reichte.
Auf der Stadtautobahn lehnte sich Hanson
entspannt in den Sitz zurück und dachte über sein Leben nach, das er hätte
führen können ohne seine Obsession zur Jagd, ohne diesen Beruf. Vielleicht als
Angestellter einer Versicherung mit geregelter Arbeitszeit. Was wäre, wenn er
mit Hellen Kinder gehabt hätte? Sicher, dann wäre sein Leben anders verlaufen,
dann hätte er Verantwortung für die Kinder übernehmen müssen. Dann, ja dann ...
. Schluss mit diesen Was-Wäre-Wenn-Fragen, hörte Hanson sich sagen und
schaltete das Radio ein, um auf andere Gedanken zu kommen. Er lauschte den
Nachrichten der Deutschen Welle: Einige Tote durch erneute Einsätze der
russischen Omon-Einheiten in Tschetschenien, Giftgasunglück in einer chemischen
Fabrik in Indien, Hunderttausend AIDS-Tote in Schwarzafrika, die
Hiobsbotschaften rissen nicht ab.
Die Menschheit gibt sich viel Mühe, ihre eigne
Spezies vom Antlitz dieser Erde zu tilgen, dachte Hanson. Vielleicht die letzte
Chance, die dem Blauen Planeten bleibt, ohne den Homo sapiens versteht sich zu
überleben, spann er seinen Gedanken verbittert weiter. Irgendwie muss die
Christenheit den biblischen Imperativ „MACHT EUCH DIE ERDE UNTERTAN“
missverstanden, völlig missverstanden haben. So jedenfalls durfte es nicht
weitergehen. Konnte sich diese Menschheit vor Gott noch Gnade erhoffen, für die
Verbrechen, die sie dieser Erde angetan hat? Wohl kaum. Die Nachrichten waren
geeignet, labile Charaktere in die Nähe der Depression zu bringen.
Langsam lichtete sich Berlin, nur noch wenige
Häuser, die die Autobahn säumten. Hanson schaltete das Radio ab und nestelte
sich aus der Dose einen Riegel Schokolade. In weniger als dreieinhalb,
höchstens vier Stunden würde er wieder in Kiel sein, vielleicht noch vor dem
Grau und dem Tau
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