Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
Fadenenden
logisch verknüpft, jetzt hatte er begriffen. Und mit dem Begreifen kam das
blanke Entsetzen. Obwohl mittlerweile die Sonne vom Himmel brannte, wurde ihm
kalt. Selten war er sich einer Sache so sicher gewesen. Wenn ihn sein
kriminalistischer Instinkt nicht trog, war politisch betrachtet das große Warum
reines Dynamit. Wer aber hatte die Hand an der Lunte? War sie vielleicht schon
gezündet? Konnte er sie noch austreten? Hanson war beunruhigt, genau genommen
sogar äußerst beunruhigt. Die politischen Folgen waren nicht abzusehen. Europa
würde sich verändern, das wusste Hanson, das war seine feste Überzeugung.
Manchmal ist eine solche Überzeugung, wie es sein könnte, ohne es wirklich
genau zu wissen, eine beflügelnde Hilfe, die große Kräfte freisetzt. Diese
Kräfte ließen Hansons psychologisches Programm „JAGEN“ plötzlich wieder aktiv
werden. Nun musste gehandelt werden, jetzt sofort.
„Der Gullydeckel ist also des Rätsels Lösung zum
großen Fragezeichen“, raunte Hanson etwas benommen mehr zu sich selbst als zu
Rebecca, die ihn verwundert ansah.
Mit dünnen Worten versuchte er, ihr die
Situation zu erklären. Noch immer unter dem
Eindruck seiner schrecklichen dunklen
Vorahnungen, verhaspelte er sich und setzte neu an. Sie aber schien rasch zu
verstehen und zeigte Verständnis. Natürlich hatte sie in den Kieler Nachrichten
die Morde und deren Aufklärung mit großem Interesse verfolgt, das war sie ihren
Gefühlen zu diesem faszinierenden Mann schuldig. Bummelte sie doch mit ihm, dem
die Aufklärung der Morde zu verdanken waren, Hand in Hand an der Förde entlang.
Viel zu gerne hätte sie ihn heute Abend zu sich nach Hause zum Essen
eingeladen, um anschließend noch bei einem süffigen Roten mit ihm auf der Couch
ein bisschen zu kuscheln.
Mit einem vernehmlichen Seufzer liebkoste sie
ihm die Wange und strich mit ihrem Zeigefinger über die winzige Bisswunde an
seiner Unterlippe.
„Dag, wenn es Dir möglich ist, komm anschließend
noch vorbei. Ich habe etwas zum Abendessen vorbereitet. Egal wie spät es wird,
meine Tür steht für Dich immer offen, Du bist immer willkommen“.
Das klang wie eine Offenbarung, wie eine
Einladung, über Nacht zu bleiben. Ohne Zweifel würde die Welt sich weiter
drehen, würde er nicht sofort handeln und alles auf morgen verschieben. Eine
Nacht mit dieser Frau war schon ein verlockendes Angebot. Wie oft hatte er
davon geträumt. Hatte er sich nicht monatelang nach ihren Rundungen verzehrt?
Jetzt glaubte er durch die Blume verstanden zu haben, mit ihr die Nacht
verbringen zu dürfen. Hanson schluckte mehrmals mit trockener Kehle.
Tief enttäuscht, seine Sehnsüchte heute nicht
stillen zu können, war er doch andererseits hoch beglückt, die Bewandtnis des
in Beyers Wagen sichergestellten Gullydeckels endlich erkannt zu haben. Nicht
seine berufliche Integrität, sondern sein verbissener Jagdtrieb ließ den
Verzicht auf Rebecca weniger schmerzen.
Mit seinem neuen Handy hatte er sich noch nicht
angefreundet. Nach drei erfolglosen Versuchen meldete sich endlich der
Kriminaldauerdienst. Hanson bestellte sich eine Funkstreife zum Zeitungskiosk.
War jetzt die entscheidende Phase der Jagd
gekommen?
Kapitel 57
Kiel, Mittwoch, 14.06.1995, 17.10 Uhr
Rebecca nestelte ihren Schlüssel ins Schloss und
öffnete fahrig ihre Wohnungstür, trat über die Schwelle und drückte mit ihrem
linken Ellenbogen die Tür wieder zu. Sie war traurig und enttäuscht; Dag zum
Abendessen einzuladen, hatte nicht sein sollen. Alle Vorbereitungen waren für
die Katz. Im Schlafzimmer öffnete sie die Kommode und kramte den Bilderrahmen
mit dem Lichtbild ihres verstorbenen Mannes unter ihrer Bettwäsche wieder
hervor und stellte den Rahmen auf ihren Nachtschrank zurück. Lange schaute sie
die Fotografie an.
„Mein Gott, Herbert, ich habe mich neu verliebt,
was würdest du sagen“?
Jedes Mal stellte sie sich diese Frage, wenn sie
an Hanson dachte. Aber hatte sie in den letzten Jahren nicht lange genug
getrauert, pietätvoll und ohne Fehl und Tadel? Auf jeden traurigen Morgen
folgte immer ein einsamer Abend und auf die freudlose Nacht wieder ein öder
Tag. Jeder Tag verschmolz mit dem nächsten. Über Jahr und Tag, jahraus jahrein,
immer die gleiche Tristesse. Ihr Ruf als Witwe war makellos, der kleinstädtische
Klatsch wagte sich nicht heran. Aber hatte sie nicht auch wieder ein Recht auf
ein kleines Glück? Wie gerne wäre sie der Anlass eines Tratsches gewesen.
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