Aus Dem Dunkel
dass er sie verlassen wollte.
»Mal«, sagte er und blieb vor ihr stehen. Er fasste sie bei den Schultern, aber sie entzog sich ihm. Nein! Sie wollte nicht, dass er ihr die schlimme Nachricht mitteilte.
»Ich muss für eine Weile weggehen«, sagte er und ließ die Hände sinken. »Ich möchte, dass du auf deine Mom hörst, okay? Ich ruf dich an, ja?«
»Wohin gehst du?«, fragte sie. Es erstaunte sie, dass ihre Stimme so fest klang.
»Ich werde erst einmal beim Master Chief wohnen«, antwortete er. »Damit du und deine Mom sicher seid.«
»Sicher vor wem?«, schnaubte sie. Sie versuchte ihren Schmerz hinter Wut zu verbergen. »Vor einem alten Mann?«
Er sah sie nur an. Sein Blick verdüsterte sich. »Ich möchte, dass du das Buch zu Ende liest, das wir angefangen haben«, wechselte er das Thema. »Und lies auch die anderen, bevor die Schule wieder anfängt.«
Die Ferien dauerten noch zwei Wochen. »Wie lange wirst du denn weg sein?«, wollte sie wissen, bemüht, den verzweifelten Ton in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Versprich mir, dass du auf deine Mutter aufpassen wirst. Und mach keine Dummheiten. Du weißt schon, was ich meine.«
Sie reagierte nicht, als er ihr mit der Hand über das feuchte Haar strich und sie auf die Stirn küsste. Dann wandte er sich ab, um die restlichen Stufen hinunterzugehen.
Im letzten Augenblick wirbelte Mallory herum, warf sich gegen seinen Rücken und schlang die Arme um ihn.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Sie wollte ihn anflehen, bald wieder heimzukommen. Aber angesichts des Schmerzes versagte ihr die Stimme, und sie brachte kein Wort heraus.
Er legte seine Hände auf ihre und drückte sie. »Pass auf dich auf«, sagte er mit rauer Stimme. Dann löste er sich aus ihrer Umarmung, ging, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, die Treppe hinunter und trat auf die Straße.
Mit brennenden Augen sah Mallory ihm nach, wie er mit langen Schritten auf die nächste Ecke zumarschierte. Er trat in Pfützen, als sähe er sie nicht. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel war immer noch unheilvoll grau. Schwere Wolken trieben vom Meer heran und kündigten weitere Schauer an.
Helen war bis ans andere Ende des Strandes gelaufen, bevor ihr klar wurde, dass sie unbewusst auf das Haus des Master Chiefs zugesteuert hatte.
Sie blieb abrupt stehen, ignorierte Priscilla, die an der Leine zog. Die Sonne stand bereits tief und tauchte das Wasser in eine perlgraue und rosa Farbe. Der Sand gab hier, an der Brandungslinie, unter ihren Füßen nach. Weiter würde sie nicht gehen.
Priscilla winselte, wollte zu der Familie, die ein kleines Stück entfernt mit einem Frisbee spielte. Helen blickte zu den dunklen Fenstern von Sebastians Haus und fragte sich, ob Gabe sie sehen konnte – und ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn es so wäre. Noch nie waren ihr zwei Tage so lang vorgekommen.
Jetzt war sie froh, dass sie ihm nicht die Ewigkeit versprochen hatte. Hätte sie es getan, wäre seine Entscheidung, sie zu verlassen, doppelt so schmerzhaft gewesen. Sie versuchte, nicht an sich zu denken. Es war Gabe, der litt. Er hatte tiefere Narben als jene auf seiner Haut, die sie geküsst hatte. Die Gefangenschaft hatte Spuren in seinem Geist, seinem Denken hinterlassen; sie hatte ihn blind für die Wirklichkeit gemacht, ließ ihn Angst vor eingebildeten Gegnern haben.
Das war jedenfalls Dr. Terriens Einschätzung. Sie hatte ihn gestern angerufen, um ihn vorzuwarnen, dass Gabe seinen Termin bei ihm wahrscheinlich nicht wahrnehmen würde. Als sie ihm erklären wollte, warum, hatte der Doktor sie zu beruhigen versucht: Er hat mehr Schrecken erlebt, als Sie und ich uns vorstellen können, Helen. Er ist psychisch darauf eingestellt, dass ihm ständig Gefahr droht. Sie müssen ihm Zeit geben.
Zeit konnte sie ihm geben. Ihr Herz … das war etwas anderes.
Es bereitete ihr immer noch Sorgen, dass Gabe der festen Überzeugung war, jemand habe Grund, ihn umzubringen. Was war, wenn er recht hatte? Was war, wenn sein Leben wirklich in Gefahr war?
Sie hatte ihren Vater angerufen, um seine Meinung zu der Sache zu hören.
Er hat dich verlassen?, hatte Oliver Troy erschrocken gefragt.
Er glaubt, dass sein Leben in Gefahr ist, Dad. Ich möchte wissen, was du davon hältst.
Ihr Vater hatte gezögert. Solche Fragen sollte man nicht am Telefon erörtern, wo die Möglichkeit besteht, dass jemand mithört. Wenn dein Mann vermutet, dass eine solche Gefahr existiert, dann gibt es
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