Aus Dem Dunkel
musste, das Bild, das sie sich gerade ins Gedächtnis gerufen hatte, aufrechtzuerhalten. Was ihn anging, war ihr Herz verschlossen, oder nicht?
Er hatte sie gerade eben angegriffen, Herrgott noch mal, hatte sie fast getötet. Da war es wirklich nicht angebracht, gleich wieder weich zu werden, nur, weil er sich um sie kümmerte. Sie räusperte sich. »Ich bin okay«, krächzte sie.
Voller Sorge betrachtete er sie. »Du solltest wirklich ins Krankenhaus und dich untersuchen lassen.«
»Nein«, widersprach sie störrisch. »Ich gehe nirgendwohin, nur noch ins Bett. Ich muss morgen früh raus.« Sie rutschte zum Ende der Couch, um aufzustehen. Doch noch bevor ihre Füße den Boden berührten, hielt er sie zurück.
»Helen«, sagte er eindringlich.
In seinem Ton lag die Aufforderung, ihm in die Augen zu sehen. Sie tat es vorsichtig, denn sie fürchtete, dann wirklich schwach zu werden.
»Bitte verzeih mir«, bat er leise.
Sein Schuldeingeständnis berührte sie, und sie hätte seine Entschuldigung gern angenommen. Aber sie konnte es nicht. Wenn sie ihm jetzt schon verzieh, nur wegen eines Übergriffs, dann würde sich daraus eine Lawine entwickeln, und sie würde ihm alles verzeihen müssen. Sie hatte zu viele schmerzhafte Stunden durchlebt, um sich noch einmal auf dieses Risiko einzulassen.
Sie nickte knapp, aber das bedeutete nichts.
Und er wusste es. Er wandte den Blick ab, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Komm nicht in meine Nähe, wenn ich schlafe. Ich möchte dich nicht noch einmal verletzen.«
»Ich habe gehört, wie du aus dem Haus gegangen bist«, erklärte sie heiser. Sie hatte einfach nachsehen wollen, ob mit ihm alles in Ordnung war. »Hast du dich in deinem Traum an irgendetwas erinnert?«
Er zögerte nur eine Sekunde. »Ja«, sagte er dann.
Sie fürchtete sich davor, zu erfahren, was es war, aber sie wusste, dass sie danach fragen sollte, denn wahrscheinlich war es besser, wenn er darüber sprach. »Kannst du es mir erzählen?«
Er sah ihr in die Augen, dann wandte er den Blick wieder ab. »Seung-Ki«, sagte er in einem Tonfall, bei dem ihr unwillkürlich ein Schauder über den Rücken lief. »Er ist derjenige, der mich gefoltert hat.«
Fürchterliche Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie beobachtete, dass die Muskeln in seinem Kiefer zuckten – Gabe wusste nicht, was er sagen sollte. Wieder wollte sie ihn trösten, doch er hatte jede Art von Mitleid immer abgelehnt.
Plötzlich stand er auf und reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen. Überrascht betrachtete Helen seine Hand und war versucht, sie zu ergreifen, Frieden mit ihm zu schließen. Doch sie traute sich selbst nicht über den Weg, wusste nicht, ob sie sich dann nicht auch all seinen anderen Wünschen unterwerfen würde, so, wie sie es immer getan hatte. Außerdem war dieser neue Gabe zu aufrichtig, zu anziehend. Er stellte eine Bedrohung für ihre Unabhängigkeit dar, für die sie so hart gearbeitet hatte.
Also ignorierte sie seine Geste und stand aus eigener Kraft auf. »Gute Nacht«, sagte sie und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Sie durchquerte den Wohnraum und spürte seinen Blick im Rücken, bis sie in den Flur abbog.
Im Schlafzimmer verschloss Helen die Tür hinter sich, sie spürte immer noch den Schmerz in ihrer Kehle. Seltsamerweise schien ihr Herz aber heftiger wehzutun – nicht aufgrund ihrer eigenen Verletzung, sondern wegen all der Qualen, die Gabe im vergangenen Jahr hatte durchleiden müssen. Zum ersten Mal war ihr ein kurzer Einblick in seine Welt des Schreckens gewährt worden. Sie fühlte sich schuldig, weil sie es nie für möglich gehalten hatte, dass er immer noch am Leben war und die schlimmsten körperlichen Schmerzen und fürchterlichsten Ängste durchstehen musste, die ein Mensch sich überhaupt nur vorstellen konnte.
Langsam ließ Gabe sich auf die Couch sinken, von der Helen gerade aufgestanden war. Ihre Wärme hatte sich bereits verflüchtigt. Er fröstelte, und obwohl er ein T-Shirt trug, bekam er eine Gänsehaut. Seine Zelle in Nordkorea musste im Sommer heiß und im Winter kalt gewesen sein. Er erinnerte sich nicht, aber das Leben in klimatisierten Räumen war er nicht mehr gewohnt.
Außerdem war die Erinnerung an Seung-Kis blitzende Instrumente wieder ganz frisch in seiner Erinnerung und ließ ihn von innen heraus frösteln. Immer noch spürte er die scharfen Schneiden dieser Folterwerkzeuge an seinen Ohrläppchen, seiner Nasespitze, die Bedrohung, die von ihnen ausging. Er
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