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Aus dem Leben eines Lohnschreibers

Titel: Aus dem Leben eines Lohnschreibers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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wie Schanghai allein nur schwer zurechtfinden und analphabetisch herumirren. Auch ein Taxi bedeutet nicht unbedingt Rettung. Wenn es einem endlich gelingt, das Ziel der Fahrt so auszusprechen, daß es der Taxifahrer versteht, ist es noch lange nicht gesagt, daß er auch weiß, wo das ist. Zu viele neue Straßen kommen täglich dazu. Im übrigen hat es durchaus seine Reize, sich Schanghai von Stadtpolitikern zeigen zu lassen. Man lernt es vollständiger kennen. Denn es besteht ja nicht nur aus Bauten und Einrichtungen und Fluidum, sondern auch aus seinem ganz speziellen Stolz auf diese Bauten und Einrichtungen und dieses Fluidum.
     
    Wir wurden in den ersten Tagen empfangen unter anderem von Stadtbauamtchefs, Propagandachefs, Ministern mit unerklärlichen Geschäftsbereichen, Baulöwen, Chefredakteuren, Leitern von Fremdsprachenschulen und Waisenhäusern, Immobilienhaien, Universitätsdirektoren und ein paar Schriftstellerkollegen (mit denen der Austausch ziemlich unergiebig war). Wir standen viel im Stau und kamen oft zu spät. Dadurch verkürzten sich glücklicherweise die unergiebigen offiziellen Begegnungen an überdimensionierten Konferenztischen.
    Nach diesen wichtigtuerischen Konferenztischbegegnungen und ein paar höflichen Fragen und einer raschen Besichtigung der Örtlichkeit ging es zum Wesentlichen: Zum Essen. Wir aßen mittags zwei bis drei Stunden und abends zwei bis drei Stunden. Mittags spät und abends früh, oft nur zwei Stunden dazwischen. Es gibt kein Entrinnen. An den runden Eßtischen resümiert man, was man zuvor an den Konferenztischen hörte: teils angeberische und teils erstaunlich offene Referate - zum Beispiel über die Bedeutung des Individualismus im modernen China.
    Wir haben eine Unmenge aufgeweckter perfekt amerikanisch sprechender Chinesenkinder getroffen, die trotz ihres Lerneifers weder engstirnig noch schüchtern, noch sonst irgendwie deformiert wirkten, sondern quietschfidel. Viele in Schanghai arbeitende Ausländer (besonders die wegen der Pisa-Studie mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen Deutschen) sind der festen Überzeugung, daß spätestens dann, wenn die jetzt jungen Chinesen in Schlüsselpositionen sitzen, in einigen Jahren also, China in der Weltwirtschaft den Ton angeben wird - eine Vision, die einen allerdings nicht erschrecken sollte, denn die jungen Chinesen, die mit der Kulturrevolution nicht mehr in Berührung gekommen sind, sind ausgesprochen angenehme Menschen, und ein Amerika an zweiter Stelle wäre einmal eine hübsche Abwechslung. Auch ist es angenehm, daß man in China immer und überall rauchen darf und besonders gern während des Essens. Schlangensuppe schmeckt besser, wenn man sie mit Rauch im Mund herunterschlürft.
    Da bei den Essen mein Platz als Dichter der achtundzwanzig Bücher stets neben dem des höchsten chinesischen Gastgebers war, meist ein Mensch im Ministerrang, war es mir ein Vergnügen, den für den Bau von Krankenhäusern oder die Erziehung von Millionen von Schanghaier Schulkindern zuständigen Mann dabei studieren zu können, wie er die knappe freie Fläche zwischen seinem rechten und meinem linken Tellerrand nutzte, um Fischgräten und Knöchelchen laut und deutlich und punktgenau aufs weiße Tischtuch zu spucken. Ich sage das ohne Ekel und Überheblichkeit, ich lobe die Sitte ohne Ironie: Der Tisch ist voll mit Leckereien, da ist eben kein Platz für Spucknäpfe. Der Minister machte einem vor, was man nur allzugern nachmacht. Für den ratlos auf Knorpeln herumkauenden Europäer hat diese Möglichkeit der Entsorgung nicht nur etwas Erlösendes, sie hat auch etwas angenehm Unspießiges. Man darf nur nicht auf den Haufen des Tischnachbarn spucken, immer rechts neben den Teller muß man seinen eigenen Unrat entsorgen.
     
    Manche von uns Verfassern hatten das Gefühl, man mache uns etwas vor. Die berühmten Potemkinschen Dörfer. Das glaube ich nicht. Man ist in Schanghai sicher nicht blinder selbstverliebt in seine boomende Stadt und stolzer darauf als anderswo. Wenn einen der Bürgermeister von New York oder der Microsoftboß zu einer Besichtigung einladen, dürfte man auch einiges Aberwitziges an Zuversicht und Selbstweihrauch zu hören kriegen.
    Es gibt in Schanghai Immobilienhaie, die furchterregend aussehen wie Erzböse aus James-Bond-Filmen. Aber Vorsicht: So können auch Immobilienhaie in Chicago - und sogar in München aussehen. In München allerdings würde sich auch unter einer allmächtigen CSU-Regierung nicht der Bau eines

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