Aus dem Leben eines Lohnschreibers
Chefs für geistig noch nicht angekommene Mitarbeiter Verständnis haben, die nach dem Urlaub erst einmal drei Tage tatenlos aus dem Fenster starren, ist zu bezweifeln.
Vorher hatte man jahrelang von der Selbstfindung herumgefaselt, und zwar so inflationär, daß dieses Wort schließlich nur noch satirisch zu gebrauchen war. Seitdem findet man sich nicht mehr, sondern kommt an bei sich.
Danach ließ ich einen Absatz über politische Parteien folgen, von denen es neuerdings auch heißt, sie seien noch nicht oder nun endlich doch bei sich angekommen. Erst am Ende des Textes fand ich Gelegenheit, Tuğba zu preisen. Unruhe und Unentschlossenheit machten mich lebendiger als ein Ankommen bei mir selbst, schrieb ich. Mit meinem Ich würde ich mich erst im hohen Alter beschäftigen, vorher hätte ich für so etwas keine Zeit:
Bis dahin gehe ich, solange ich noch ein bißchen italienbraun bin, trotz der ziemlich guten Äpfel nicht in den Ökoladen, sondern lieber in meinen Lieblingssupermarkt. Die Göttin der Filiale wird mich kaum mit der esoterischen Frage nerven, ob ich schon angekommen sei. Eigentlich schade. Vielleicht sagt sie: »Aha, wieder da.« Vielleicht kaufe ich nur einen einzelnen Apfel, weil sie dann sicher noch paradiesischer aussieht, wenn sie ihn auf die Waagschale legt.
»Evas Apfel«, entschied ich, sollte die Kolumne diesmal heißen, auch wenn Tuğba als Türkin mit den Welterschaffungsmärchen der Bibel nicht viel würde anfangen können und von Evas paradiesischen Verführungskünsten vielleicht noch nie etwas gehört hatte. »Tuğbas Apfel« aber konnte ich die Kolumne schlecht nennen, das wäre entschieden zu indiskret und obendrein bezugslos und unverständlich. Beim Schreiben der Kolumne hatte ich ein bißchen im Netz herumrecherchiert, mich an den süßen Klängen türkischer Musik gelabt und zu meinem Entzücken festgestellt, daß Tuğba nicht nur »die Schöne« und »die Gutmütige« bedeutet, sondern laut Koran auch »Baum im Paradies, der nie verblüht«, daß es also von daher durchaus Berührungspunkte zu Eva und Adam und dem Apfel gab.
Der Supermarkt hat schon um acht in der Früh auf, im Gegensatz übrigens zu den Schlafmützen vom Ökoladen, die erst um neun gähnend die Tür öffnen. Am nächsten Tag um acht ging ich hin, in der Hoffnung, Tuğba anzutreffen. Sie war damit beschäftigt, ein Regal mit Pfirsichen draußen neben der Tür aufzustellen, und machte am Bürgersteig kniend an den Regalrädern herum. Auch wenn sie diesmal nicht die Heldin der Kolumne war, sondern nur einen kleineren Auftritt hatte, wollte ich nun das tun, was ich vor drei Monaten hatte tun wollen: eine Zeitung kaufen und ihr meine Grußbotschaft überreichen. Doch sie stand auf, sah mich an und sagte: »Schon gelesen, schon um sechs Uhr.« Dann ging sie in den Laden und verschwand zwischen den Regalen. Ich war der ersten Kunde an diesem Morgen, ich kaufte Butter, Käse und Grapefruitsaft. Einen Apfel kaufte ich nicht. Das wäre mir zu anzüglich gewesen. Man muß zwischen Literatur und Wirklichkeit ein bißchen unterscheiden. An der Kasse saß eine Kollegin, die über meine Eigenschaft als Sänger und Besinger der Göttin Bescheid wußte und entsprechend lächelte. Auch sie bildhübsch. Als ich zahlte, erschien Tuğba mit einer Schachtel: Edle Tropfen in Nuß - Obstbrände. »Vielen Dank, daß Sie mich erwähnt haben«, sagte sie formvollendet und drückte mir die Pralinen in die Hand. Unfaßbar, wie geschickt und charmant sie damit umging, von einem alten Mann verehrt zu werden. »Schönes Wochenende!« Gut, daß es solche Formeln gibt.
Das Leben ist schöner, aber nicht leichter geworden seitdem. Jetzt, wo wir uns kennen, kann ich nicht mehr so oft kommen wie früher. Verehrer dürfen nicht lästig werden. Nichts schlimmer als die Vorstellung, Göttin Tuğba auf die Nerven zu gehen. Früher ging ich oft nur dann zum Einkaufen in die Filiale, wenn ich wußte, daß sie da war. Im Schutz der Anonymität konnte ich sie ausgiebig bewundern. Das ist vorbei. Heute zwingen mich die ungeschriebenen Gesetze der Zurückhaltung, manchmal woanders einzukaufen, wenn ich weiß, daß sie da ist. Mehr als zwei Begegnungen pro Woche, will ich ihr nicht zumuten. Einmal, als sie Dienst hatte, war ich viermal am Tag im Laden. Es ließ sich nicht vermeiden. Wir hatten zu Hause Gäste eingeladen, meine Frau kochte hektisch, immer wieder fehlte etwas. Die Tuğba-Filiale liegt nun einmal am nächsten. Jedesmal, wenn sie
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