Aus dem Leben eines Lohnschreibers
verschwundene Laura ein Leben lang anbeten kann. Vermutlich hatte sie geheiratet. Oder sie war mit der Kasse durchgebrannt und saß nun im Gefängnis. Die Vorstellung, die Schluchzende dort ausfindig zu machen und zu besuchen und ihr zu versichern, daß ich trotz der Untat zu ihr halte, erwärmte mich ein paar Tage und verblaßte dann. Ein letztes Auflodern der Phantasie, ehe, wie in solchen Fällen üblich, das grausame Vergessen beginnt, mit dem sich die geschundene Seele vor dem Verglühen schützt.
Dann war ich es, der verschwand. Zwei Monate verbrachte ich anderswo, in Italien, und verdiente Geld, indem ich über andere Dinge schrieb als über Filialleiterinnen, denn das Konto darf so wenig leer werden wie der Kopf und das Herz.
Am Ende des Sommers kehrte ich nach Hause zurück. Es war ein Sonntag. Nichts war zum Essen da. Am Montag morgen mußte ich einkaufen. Ich ging in meine Filiale, und natürlich war sie nicht da. Hätte ja jetzt auch keinen Sinn mehr gehabt. Eine Tageszeitung, die drei Monate alt ist, entfaltet keine Kräfte mehr. Auch Hymnen halten nicht ewig. Ich wußte auch gar nicht mehr, wo ich die Seite aufbewahrt hatte. Es war vorbei. Dennoch, ein letztes Zucken meiner Hoffnung ließ mich auch am Dienstag noch einmal in der Filiale vorbeischauen. Ein allerletztes Mal. Nichts. Eine wunderhübsche junge Schwarze saß an der Kasse, mit einem sanften Lächeln, wie vom Gott der Liebe da hingesetzt, um mir zu zeigen, daß es auch andere schöne Frauen gibt. Ich nahm mir vor, mich nun nicht weiter zu quälen, diese Filiale nie wieder zu betreten, sondern fortan zur Konkurrenz zu gehen, wo es die Ingwerwurzeln gab. Auch ein Kämpfer muß irgendwann aufgeben.
Am Nachmittag dieses Tages meiner Kapitulation klingelte das Telefon. Die Supermarktfiliale. »Sind Sie der Schriftsteller?« Es war SIE. SIE selbst. Die Göttin. Sie war im Urlaub gewesen. Die Personalleiterin hatte ihr eine Ausgabe der Zeitung zukommen lassen. Der Bezirksleiter hatte ihr gratuliert. Alle hatten sich über die Kolumne gefreut, am meisten natürlich sie selbst. Eine riesige Freude hätte ich ihr damit gemacht. Dafür wolle sie sich bedanken. Wann ich wieder im Laden vorbeikäme? Sie wolle mich kennenlernen. Sie sei allerdings nicht Filialleiterin, sondern stellvertretende Filialleiterin. Aber mit der Türkin habe ich recht gehabt, auch ihr Alter hätte ich mit Anfang Zwanzig gut geschätzt. Dreiundzwanzig sei sie. Nur Fatima heiße sie nicht. Die Kolumne sei so gut geschrieben, sagte sie.
Ich konnte es nicht fassen. Toll genug, daß sie meine Schwärmerei goutierte, aber daß sie den Stil und die Formulierungen zu schätzen wußte, überwältigte mich. Daß sie mich anrief, um das zu sagen! Eine dreiundzwanzigjährige Türkin! Ich schmolz, floß dahin, brannte lichterloh - alles zugleich. Ich erzählte ihr, wie ich ihr Verschwinden für einen endgültigen Schicksalsschlag gehalten, aber nicht hingenommen, was ich alles dagegen zu tun versucht hatte. Das war ihr nicht neu. Die Personalleiterin hatte ihr auch meinen Brief gegeben, sie wußte also von meiner Untröstlichkeit, meinen Nachforschungen und hysterischen Vermutungen. »Auch dieser Brief war so gut geschrieben«, sagte sie. In dem Brief hatte ich mich viel mehr entblößt als in der Kolumne. Die Kolumne hatte ich als Kolumnist geschrieben, den Brief quasi als verlassener Verliebter. Daß sie den Brief nicht als zudringlich empfunden hatte, war ein Wunder.
Ich drückte mehrfach meine Erleichterung und meine Freude darüber aus, daß sie sich gefreut und mir das nun mitgeteilt hatte, und sie wiederholte mehrfach ihren Dank für die Kolumne und versicherte mir immer wieder ihre Freude darüber. Das Gespräch war frisch und unbefangen, es drehte sich nach einer Weile im Kreis, aber nicht langweilig, sondern wie ein Tanz, den keiner von uns abbrechen wollte. Nach einer halben Stunde sagten wir endlich tschüs und ciao, und sie sagte tatsächlich noch einmal, daß sie sich freue, mich kennenzulernen, und ich sagte, ich würde demnächst vorbeikommen.
Es war früher Nachmittag, aber jetzt sofort in die Filiale zu stürmen wäre vielleicht etwas zu gierig und übertrieben. Am nächsten Tag war sie wieder nicht da, und ich bereute schon meine Berechnung. Am übernächsten Tag am Morgen hörte ich sie in einem hinteren Raum bei den Getränkekästen mit einer Kollegin reden. Ich betrat den Hinterraum, und da stand sie. Ich weiß nicht, ob sie sich an mich als Kunden erinnerte.
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