Aus dem Nichts ein neues Leben
Alkoholtupfer, eine Staubinde, zwei Ampullen Scophedal, drei leere Ampullen Dilaudid.
»Das ist doch nicht möglich …«, stammelte Kurowski. Er saß vor dem aufgeklappten Kasten, und die schreckliche Wahrheit warf ihn einfach um. Er war nicht fähig aufzustehen … er hielt den Blechkasten auf dem Schoß fest, starrte auf die Spritzen und Ampullen, sah seinen Sohn vor sich, groß, hager, in dieser widerlichen schwarzen Lederkleidung, die Haare lang, unrasiert, frech und mit hohlen Phrasen vollgestopft … und das Geheimnis dieser Verwandlung war so einfach, lag in ein paar Tropfen Flüssigkeit, wurde mit einer Nadel ins Fleisch gepreßt: Die langsame, aber sichere Zerstörung eines Menschen.
»Er muß sofort her, Erna –«, sagte Kurowski heiser. »Erna, wir müssen unseren Jungen finden! Er geht uns vor die Hunde! Wir sitzen da unten und spielen die heile Welt, und über uns, drei Meter höher, macht sich unser Junge kaputt … und wir sehen es nicht. Wir sind blind! Erna …« Sein Kopf fiel auf den Blechkasten, die Schultern sanken nach vorne … zum erstenmal seit seiner Rückkehr aus Sibirien weinte er … Und es war wieder Erna, die seinen Kopf umfaßte, ihn hochhob, ihn küßte, ihn an sich drückte und sagte: »Ewald, ich bin ja bei dir. Ewald, nun wein doch nicht. Auch das schaffen wir, wir haben noch alles geschafft … Ewald, wir lassen uns doch nicht unterkriegen –«
Mein Gott, was für eine herrliche Frau war diese Erna Kurowski –!
Am Abend riefen sie in Köln bei Ludwig an. »Mein Junge«, sagte Kurowski mit schwerer Stimme. »Du bist doch nun bald fertiger Arzt. Hör mal zu … ich lese dir etwas vor: Scophedal … Dilaudid …«
»Was soll der Blödsinn?« sagte Ludwig in Köln. »Wo hast du das gelesen, Vater?«
»Ich habe das hier …«
»Das sind schwere Narkotika. Stehen unter dem Rauschgiftgesetz. Wer hat dir denn diese schweren Knochen verschrieben?«
»Ich habe sie gefunden, Junge.« Kurowski spürte wieder sein Herz. Es stach in der Brust, und das Blut rauschte in seinen Ohren. »Bei Peter gefunden, mein Junge. Unterm Bett. In einem Blechkasten. Mit zwei Spritzen und allem, was dazugehört …«
»Der hat doch wohl 'ne Meise!« schrie Ludwig. »So ein Spinner! Hol ihn mal ans Telefon, Vater …«
»Peter ist weg –«, sagte Kurowski mit schwerer Zunge. »Heute weg. Einfach weggelaufen, mit seinem Motorrad. In schwarzer Lederkleidung. Mutter ist völlig am Ende, Ludwig …«
»Ich komme sofort, Vater. Peter und Rauschgift! Reg dich nicht auf, Vater, und sag es auch Mutter … das bekomme ich schon wieder hin …«
Eine Stunde später war Ludwig in Leverkusen. Er kam gerade zurecht, um Erna Kurowski eine Beruhigungsspritze zu geben. Ihre Kraft war gebrochen … sie schrie seit zwanzig Minuten …
Peter Kurowski tauchte nicht wieder auf. Franz Busko, Heinrich Ellerkrug, Ludwig, Ewald und sogar Inge suchten alle Lokale ab, in der man Freunde Peters vermutete, wo sie sich versammelten, wo sie tagten, wo sie ihre ›Burgen‹ hatten, wo sie ›ein Faß aufmachten‹. Man hatte Peter mehrmals gesehen, auf dem Motorrad, in einer Kneipe, bei einer LSD-Party, bei zwei ›Trips‹ am Rheinufer, aber dann verlor sich seine Spur. Wovon er lebte, wußte keiner. In dem Beatschuppen ›Holidays‹ trafen Busko und Ellerkrug auf einen Burschen, der Peter zuletzt vor vier Tagen gesehen hatte. »Der hatte 'ne tolle Mieze auf 'n Schlitten«, erzählte er. »Weißblond, so'n richtiger Superzahn! Die bot er an, für hundert Mark. Wir hab'n ausgelacht. Das bei uns! Einmal schaukeln – hundert Mark! Ich mache Industriewerbung, hat er gesagt. Großes Geld, Jungs. Wenn ich Rita in Duisburg bei den Managern verleihe, kann ich'n Monat gemütlich von leben! Ein Tag Arbeit, zwei Tage Ausruhen. Man muß nur die richtige Kundschaft haben. Wenn irgendeine Sitzung kritisch wird, wenn Verträge platzen … Rita ist da! Und die Sache läuft! Ja, und dann ist er abgezischt mit seiner Mieze.« Der Bärtige grinste breit und verständig. »Wollten Sie auch mal mit der Rita, was?«
»Ein Zuhälter und Rauschgiftsüchtiger dazu … das können wir Ewald nicht sagen«, meinte Ellerkrug später. »Das verkraftet er nicht. Franz, lassen wir Peter vorerst verschwunden sein … es ist besser für alle …« Und so verschwand Peter Kurowski bis zum 17. September.
An diesem Tag brachte das Fernsehen in der Tagesschau einen Bericht über eine Studentendemonstration in Frankfurt.
An der Spitze des brüllenden und
Weitere Kostenlose Bücher