Aus dem Überall
Alles in Ordnung. Sie beginnt langsam und leichtfüßig zu trotten, einfach, weil es sich so gut anfühlt. Städte sind so geschichtsträchtig. Zeit, all das zu vergessen. Genieße einfach das Leben! – Hallo, Mond! Hallo, Himmel! Sie trottet vorsichtig weiter. Es prickelt, und sie sieht sich selbst vom Mond aus: ein winziger, zielstrebiger Punkt, der sich energisch nach Westen bewegt. Kurier nach Des Moines. Ganz allein in der großen, freundlichen, nächtlichen Welt. Ab und zu ein Gruß an die wenigen Schwestern, die nachts unterwegs sind. Eine Frau auf Reisen, die durchkommen wird.
Sie bemerkt vor sich einen großen Trümmerhaufen und wird langsamer, um sich vorsichtig einen Weg durch die ›Autos‹ zu suchen; sie will die Sandalen noch nicht wieder anziehen. Es ist so hell – und Hallo! Der Himmel hellt sich im Osten hinter ihr tatsächlich auf. In einer Stunde oder so beginnt der Sonnenaufgang.
Sie ist seit zwanzig Stunden unterwegs, aber sie ist noch nicht richtig müde. Sie könnte den ganzen Tag über weitergehen, wenn es nicht so heiß würde. Sie lugt voraus und sucht nach Wegweisern zum Ryan Freeway, der sie nach Westen bringen wird. Dort wird sie Halt machen und bei Sonnenaufgang etwas essen, vielleicht auch einen Tee kochen. Und dann noch eine Weile weitergehen, bis es zu heiß wird. Dann wird sie sich eine schöne, kühle Ruine suchen und sich tagsüber verkriechen. He, vielleicht schafft sie es bis zum O’Hare! Sie hat schon einmal dort gerastet, es ist nett.
Sie hat in ihrem Rucksack genug Vorräte für mindestens zwei Tage, denkt sie. Aber die Schokolade geht langsam aus; muß mir in der nächsten Siedlung welche besorgen, wenn ich sie kriegen kann. Süßigkeiten sind gute Kalorienlieferanten, wenn man sich anstrengt. Sie läuft weiter und denkt über die Schwester nach, mit der sie ihre Schokolade teilte, während sie hinter dem Park zusammen gingen. So ein freies, süßes Gesicht. Alle Schwestern sind großartig, aber diese war besonders interessant. Sie lebte hier und studierte die Vergangenheit. Sie wußte so viel, all diese Geschichten, Mensch! Wenn man sich vorstellt, daß die Menschen ihre Geschlechtsorgane an Männer verkaufen mußten, damit sie essen konnten!
Es ist zuviel für sie, denkt sie grinsend. Überlaß das nur den Studenten. Ich bin ein Tatmensch, ja. Ein Kurier, eine Reisende, die vorbeizieht und sich alles ansieht, diese wundervolle Welt. Proben nehmen, genießen und die Meilen überwinden. Rechts und Links und Rechts und Links auf den alten Straßen. Die Füße eines Kuriers sind fest und braun wie eine Eiche. Von allen Tieren lernte sie die Sprache, lernte ihre Namen und alle ihre Geheimnisse. Sie sprach mit ihnen, wo immer sie sie traf – ein großartiger Rhythmus zum Laufen. Eine frische Brise im Rücken, und vor ihr geht der Mond unter!
Die Brise läßt die alten Gebäude auf beiden Straßenseiten klappern und krachen, bemerkt sie. Besser, wenn sie in der Mitte bleibt, auch wenn es eng wird. Die Häuser stehen hier ganz eng beisammen, alle eingesackt und voller Schutt. ›Slums‹ sind das wohl. Wo die verrückten Leute früher so eng beisammen hockten. Was muß das für ein Durcheinander gewesen sein; interessant für eine Reisende, aber für die Menschen schrecklich. Nun, sie sind jetzt alle tot, denkt sie, während sie einem Haufen Trümmer auf der Kreuzung ausweicht und auf dem Mittelstreifen den nächsten langen Block hinuntergeht.
Aber es ist nicht alles fort, bemerkt sie; die Schritte, die sie schon eine Weile hinter sich tappen hört, sind immer noch da. Ein Tier, denkt sie, einer dieser armen Hunde. Er folgt ihr. Oh, es geht den Hunden hier bestimmt nicht schlecht, weil es sicher viele Ratten gibt.
Sie dreht sich ein paarmal um, aber sie kann nichts sehen. Wahrscheinlich hat er Angst. Welches mag wohl seine Sprache sein? fragt sie sich und vergißt ihn, als sie vor sich die unverkennbare Silhouette einer Freeway-Brücke sieht. He, ist das schon der Ryan?
Sie wirft einen Blick zum sinkenden Mond und sieht, daß der Himmel rasch heller wird. Auf der linken Straßenseite ist eine freie Fläche; dort könnte sie gut laufen. Sie beschließt, auf die andere Seite zu wechseln.
Ja, hier geht es gut voran. Sie schlägt wieder ihren leichten, barfüßigen Trott an und schickt einen letzten liebevollen Gedanken zu den armen, irren Leuten, die sich hier früher abgerackert haben, und die trotz ihrer Schmerzen die Gene an sie weitergeben konnten, damit sie ein
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