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Aus dem Überall

Aus dem Überall

Titel: Aus dem Überall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Jr. Tiptree
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der die Ereignisse sich zutrugen, versuchte Joylone trotz ihres musikmachenden Zahnes nicht laut aufzuschreien.
    Sie hatte einen Job während der Nachtstunden als Mädchen für alles im fünften Stockwerk der lokalen Rundfunkstation WPNQ. Das Gebäude war neu, und ebenso neu war der starke Sender, der sich weit über ihrem Kopf auftürmte und auf dem höchsten Punkt des letzten bewaldeten Hügels von Los Angeles lag. Man hatte ihn mit derartigen Kräften ausgestattet, daß er jeden anderen in der Umgebung der Stadt übertönte. Er war so stark, daß es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitete, über die kleine Füllung ihres rechten Backenzahns Stevie Smith auszustrahlen.
    »I was much farther out than you thought, and not waving but drowning« , sang der Zahn. In Jolyones Augen sammelten sich Tränen, und ihr Kinn zitterte, was allerdings nichts mit dem Lied zu tun hatte.
    Der Grund für ihr Weinen lag darin, daß es ihr genau hier in Hal Hodges Büro bewußt geworden war, daß die Erde sterben mußte. Und sie hatte es vorausgesehen.
    Sie war neunzehn Jahre alt.
    Bevor sie ihren nächtlichen Dienst angetreten hatte, war sie mit dem Wagen zur Küste hinausgefahren. Sie wollte zu dem Pinienwäldchen hinüber, in dem sie als Kind eine Menge Zeit in Fröhlichkeit verbracht hatte. Ihr Zimmergefährte war liebenswürdigerweise gegangen, und so war ihr nach einem bißchen Frieden zumute. Sie hatte das Gefühl, zu lange von der Erde und den Wäldern getrennt gewesen zu sein.
    Es war schon dunkel, als sie sich dem Wald näherte, aber trotzdem konnte sie sich nicht des Eindrucks erwehren, daß sich in dieser Gegend mehr Häuser befanden, als sie in Erinnerung hatte. Doch schließlich berührten die Strahlen der Wagenscheinwerfer wieder das vertraute, im Nebel liegende Gehölz. Die Straße war wieder die alte. Gegen Mitternacht erreichte sie den Hügelkamm. Das Gebiet wurde abschüssig. Irgendwo vor ihr mußte es steil zur Küste hin abfallen. Der Nebel war so dicht, daß Jolyone sich entschloß, den Wagen anzuhalten, ein Schläfchen zu machen und nach dem Morgengrauen den Sonnenaufgang zu genießen. Sie war umgeben vom friedfertigen Duft der Bäume. Eine Eule schrie wütend auf und eine andere antwortete. Als Jolyone in den Schlaf hinübersank, hörte sie das Geplätscher des kleinen Baches, der in der Höhle verschwand, in der sie sich schon als kleines Mädchen versteckt hatte. Die Erinnerung daran brachte sie zum Lächeln.
    Natürlich sah sie an diesem Ort nicht, wie die Sonne aufging.
    Im ersten bleichen Licht des Morgens wurde sie vom Aufbrüllen starker Dieselmotoren, die nicht weiter als dreißig Meter von ihr entfernt in Betrieb gesetzt wurden, aus dem Schlaf gerissen. Erst war es einer, dann zwei, dann drei; ein vierter kam hinzu, und ehe Jolyone dazu kam, sich klarzumachen, daß es kein Alptraum war, der sie schüttelte, erklang aus der Gegenrichtung das Schnarren riesiger Baumsägen.
    Sie legte die Handflächen über die Ohrmuscheln und starrte in den allmählich dünner werdenden Nebel hinaus. Baumwipfel schwankten, fielen nieder. Ihr Blick fiel auf eine Armada gigantischer Planierraupen, die an ihr vorbei donnerten. Die Maschinen pflügten den Boden um und schoben gewaltige Wellen gelöster Erde vor sich her. Sie ließen nichts als aufgeworfenen Boden hinter sich zurück.
    Erschreckt wirbelte Jolyone in ihrem Sitz herum und schüttelte den Kopf, als könne sie damit der fortschreitenden Verwüstung Einhalt gebieten. Aus dem Nichts tauchte neben ihrem Wagen plötzlich ein Schaufelbagger auf. Er kam so nah, daß sie jeden Moment damit rechnen mußte, von ihm zerquetscht zu werden.
    Mit einem Stöhnen ließ sie den Volkswagen an und trat auf das Gaspedal. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung und steuerte auf die Hügelkuppe zu. Im Vorbeifahren erkannte Jolyone, daß sie die Nacht neben einer großen Reklametafel verbracht hatte, auf der das grinsende Gesicht eines Mannes verhieß: UND WEITERE TAUSEND NETTER WOHNUNGEN VON HAPPY HARRY JOEL.
    »Oh, nein, oh, nein«, schluchzte Jolyone vor sich hin, als sie mit zitternden Knien den Hügel hinunterfuhr. Es war die Dunkelheit gewesen, die sie zum Narren gehalten hatte. In der Umgebung befanden sich nicht nur ein paar Häuser mehr als früher, sondern es wimmelte von ihnen. Von Horizont zu Horizont erstreckten sie sich. Sie waren überall, und nur die alte Straße, die von einigen ausgedörrten Bäumen umgeben war, entpuppte sich noch als Relikt ihrer Erinnerung. Die kleine

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