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Aus dem Überall

Aus dem Überall

Titel: Aus dem Überall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Jr. Tiptree
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Lichtung, auf der sie die Nacht verbracht hatte, war der einzige Platz, an dem es noch ein Wäldchen gab – oder gegeben hatte.
    »Wie können sie das nur tun«, flüsterte sie vor sich hin. »Es war doch alles so … so …« Sie suchte nach einem Begriff, der die Schönheit der Umgebung, die doch so wehrlos war, und alles, was sie einst an ihr geliebt hatte und von dem sie fest überzeugt gewesen war, es müsse auf ewig weiterbestehen, richtig ausdrückte.
    Als sie schließlich die Autobahnauffahrt erreichte, flaute der innere Schmerz ein wenig ab. Es war ein herrlicher Sonnentag. Jolyone fädelte sich in den Strom der anderen Autos ein. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sich auf dem See etwas befand, das ihr am vergangenen Abend gar nicht aufgefallen war. Nördlich von ihr gewahrte sie auf dem Wasser einen seltsamen, schwarzen Fleck. Eine Öllache?
    »Die größte Sauerei aller Zeiten«, erklärte ihr das Mädchen an der Imbißbude. »Man spricht davon, daß nahezu alle Seeottern darin umgekommen sind. Hey – wollen Sie einen unserer Supercheeseburger?«
    Jolyone fuhr zu ihrem Arbeitsplatz zurück und unternahm alles, während sie in der langen Autoschlange fuhr, um ihre Gedanken zu verdrängen. Die Sonne knallte weißlich vom Himmel herab, und neben ihr brummten Lastwagen, Personenfahrzeuge und Lieferwagen dahin. Der Kummer, der sich ihrer bemächtigt hatte, verflachte im Rhythmus des Fahrens immer mehr. Aber ihr Unterbewußtsein ließ er nicht los.
    Tausend neue Wohnungen, die hoch oben über all den anderen Tausenden prangten …
    Jolyone hatte die Leute des öfteren darüber reden gehört, daß man ihre Generation als die des ›absoluten Babybooms‹ bezeichnete. Auch sie hatte stets die Absicht gehabt, irgendeines Tages einmal Kinder zu haben, aber nun begannen sich die Einzelheiten ihrer Grundschulausbildung zu summieren. ›Ökologie‹ – das war auf einmal nichts Abstraktes mehr. Sie manifestierte sich in der Zerstörung ihres geliebten Tales, in ihrem beinahe zerquetschten Körper unter den Schaufeln eines Baggers. Und dann der Ölfleck … Sie selbst saß hinter dem Steuer eines Wagens. Möglicherweise hätte sie zu den Abnehmern des verschütteten Öls gehört. Man transportierte es hierher, um Leute wie sie damit zu versorgen. Für Tausende und Abertausende von Menschen wie sie.
    Der Gedanke beunruhigte sie. Jolyone schaltete das Autoradio ein und erwischte gerade noch das Ende von Hal Hodges’ Nachrichtensendung, die mit einem Füller schloß: Er berichtete von einem heftigen Bergrutsch in Nepal, der dadurch zustande gekommen war, weil die Leute den gesamten Bewuchs abgeholzt hatten, um Feuerholz zu bekommen. Dann schaltete Hal auf die Popstunde von WPNQ um, und Jolyone ließ sich willig auf den Klängen des Beats davontreiben. Twenty-nine colours ofblue …
    So legte sie Kilometer um Kilometer zurück.
    Schließlich erreichte sie den Parkplatz und bog ein. Mimi Lavery unterstützte Hal bei den Abendnachrichten. Jolyone hörte ihr mit kritischen Ohren zu und hoffte, daß es ihr gelingen würde, wenigstens diesmal ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Auch jetzt kam wieder ein Nachrichtenfüller: Die Bevölkerung sei wieder im Anwachsen begriffen. Man rechnete damit, daß sie sich in dreißig Jahren erneut verdoppeln würde. Anschließend kam ein vom Band eingespielter Werbespot für Eigenheime in den Bergen.
    Und genau in diesem Moment, in der gleichen Sekunde, in der sie den Volkswagen abstellte und den Zündschlüssel abzog, geschah es.
    Jolyone Schram wußte plötzlich.
    Die Vision einer sich wellenförmig ausbreitenden, milliardenköpfigen Menschenmasse kam auf sie zu; eine gigantische Springflut sich fortwährend multiplizierender Köpfe ohne Ende, die sich über die gesamte Erdoberfläche dahinwälzte, bis sie alles bedeckte. Es gab keine Farben der Natur mehr; die Köpfe breiteten sich über die Erde aus, verschluckten sie, fraßen sie kahl, plünderten die Bodenschätze, verschwendeten sie, zerstörten alles andere, breiteten sich bis an die Grenzen der Kontinente aus, strömten ins Meer, richteten dort das gleiche an, schoben sich durch Tunnels in die Innenwelt des Planeten hinein, höhlten ihn aus, schoben sich über die Berge hinweg und ließen keinen Zentimeter Bodens mehr frei. Milliarden Köpfe schnappten nach Luft, keuchten, grinsten sie an. Milliarden Hände streckten sich aus und gelangten blindlings in das Gewimmel der Körper, die die Welt überschwemmten, hinein.
    Und genau das

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