Aus dem Überall
war es, was um sie herum geschah – hier langsamer, da schneller. Und so würde es auch weitergehen. Schneller und schneller, bis zum unausweichlichen Ende.
Jolyone stöhnte auf und fiel in den Sitz zurück. Sie war ein liebes Mädchen, und deswegen gab es auch nichts, was sie vor einer solch apokalyptischen Vision zu schützen vermochte. Tatsachen allerdings konnte sie durchaus akzeptieren; zudem glaubte sie an die Beweiskraft von Zahlen. Die Menschheit würde sich in dreißig Jahren verdoppeln – und anschließend noch einmal und noch einmal. Und jedesmal würde es schneller gehen. Es geschah bereits jetzt. Nicht irgendwo und irgendwann, sondern jetzt und hier. Und sie war dabei und sah den Anfängen zu. Mit der ganzen Einfachheit ihres neunzehn Jahre alten Bewußtseins wußte sie plötzlich alles.
Und in der gleichen Sekunde wurde ihr klar, wieviel sie würde ertragen müssen und wie hilflos sie war.
War es überhaupt möglich, in diesem Chaos zu überleben, wenn es weder Platz noch Ruhe oder einen Ort gab, an den man sich zurückziehen konnte? Aber sie konnte nichts dagegen tun. Niemand konnte es, das sah Jolyone ein. Die Leute würden einfach nicht damit aufhören, Kinder in die Welt zu setzen, darüber war sie sich völlig im klaren. Selbst wenn man den Präsidenten mit einem Revolver bedrohte, würde das die Wälder nicht retten; alle die Organisationen, die um jeden Baum, jeden Fluß und jeden Berg kämpften, hätten sonst längst zu diesem Mittel gegriffen. Es lag einfach daran, daß niemand in der Lage war, die Zahlen einzudämmen. Im kalten Gegenlicht ihrer Vision sah Jolyone lange Demonstrationszüge; Reden, die gehalten wurden; kleine Bewegungen, die hofften, auf lokaler Ebene etwas zu erreichen. Guter Wille war da – aber das war nichts gegen die zahllosen Baumstämme, die erbarmungslos aus dem Boden gerissen und die Berghänge hinabgeworfen wurden. Es waren die Zahlen, die zählten, nichts anderes. Und nichts konnte sie daran hindern, sich weiter zu erhöhen. Alles, was ich gern habe, dachte sie, wird bald nicht mehr existieren.
Zitternd blieb sie in ihrem Wagen sitzen. Sie war unfähig zu weinen. Nach einer Weile beruhigte sie sich ein wenig, und da es nichts anderes für sie zu tun gab, bückte sie sich und hob die Wagenschlüssel auf. Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Im Studio nahm niemand Notiz von ihr. Es war ein ziemlich ruhiger Abend. Einige Techniker waren damit beschäftigt, die Anlagen zu überprüfen und die Schaltkreise einer Inspektion zu unterziehen. Einer der Schalttische war völlig auseinandergenommen worden.
Jolyone begab sich an ihren Arbeitsplatz, sortierte die eingegangenen Fernschreiben, räumte die benutzten Tonbandspulen weg, nahm in den leeren Büros einige Telefongespräche entgegen und verrichtete im übrigen jegliche Tätigkeit, die man ihr auftrug, in geistesabwesender Verfassung. Ihre Zahnfüllung gab flüsternd die letzten Sportergebnisse bekannt. Aber die Vision, die sie gehabt hatte, flaute keinesfalls ab. Das, was sie gesehen hatte, bewegte sich weiterhin wie eine Nebelbank in Jolyones Kopf und ließ die reale Welt wie einen sie umgebenden Traum erscheinen. Alle paar Minuten, wenn sie an irgend etwas, das nicht mehr lange existieren würde, dachte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das alte Gartengelände, in dem sie und ihre Freunde einst gelebt hatten, wurde inzwischen von Betonklötzen eingenommen, die bis in die Wolken reichten. Und diese Gebäude waren nur die Spitze des Eisberges, der sich bald in seiner wahren, zukünftigen Größe zeigen würde. Mit der ganzen Klarheit ihrer neunzehn Lebensjahre bereitete Jolyone sich darauf vor, von allem, was bisher ihr Dasein bestimmt hatte, Abschied zu nehmen.
Um zehn Uhr dreißig begann Hal Hodges übliche Talkshow. Einer der Gäste war Science fiction-Autor, ein untersetzter, zerknitterter Mann älteren Jahrgangs, der ziemlich neurotisch war und sich davor fürchtete, daß man ihm seinen Wagen stehlen würde. Jolyone versorgte ihn mit einigen Papiertaschentüchern (der Mann war erkältet), gab ihm und den anderen eine Tasse Kaffee und überließ sie dann Hal Hodges’ Händen, während der Sender eine Pause einlegte.
Als sie die Tür hinter sich ins Schloß zog, rief sie einer der Techniker, der an dem auseinandergenommenen Schaltbrett arbeitete, zu sich heran.
»Halt das mal ’ne Sekunde.« Er gab Jolyone eine ziemlich ineinander verschlungene Ladung von Kabeln. »Paß auf, daß du damit nichts
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