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Aus dem Überall

Aus dem Überall

Titel: Aus dem Überall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Jr. Tiptree
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töten. Jatkans Erinnerung hatte seit diesem Tag eine Narbe. Zuerst der Aufprall gegen die Wände und die Verwirrung – die Explosionen –, und dann kamen sie wieder frei; und schließlich die langen Stunden des rituellen Streites, um Jivadh zu überzeugen, daß sein Wissen über das Schiff zu wertvoll war, um es zu verlieren. Der Schmerz in Jivadhs Stimme, als er zugab: »Ich dachte auch ganz selbstsüchtig daran, daß wir nun ihr Wasser, ihr Essen und ihre Luft für uns haben.«
    »Deshalb will er seinen Anteil am Essen nicht haben und schläft auf nacktem Stahl.«
    »Und deshalb ist er immer so traurig«, sagte das Kind und versuchte stirnrunzelnd, die Erzählung zu verstehen.
    »Ja.« Aber Jatkan wußte, daß er es nicht einmal selbst verstehen konnte; niemand konnte es verstehen, der nicht den Schrecken eines gewaltsam gestorbenen Körpers gesehen hatte, eines Körpers, der einmal gelebt hatte, so fremd und feindselig der Besitzer auch war. Die drei Leichen waren unter angemessenen Ritualen in die Wiederaufbereitung gegangen, wie sie es auch mit ihren eigenen Toten taten. Inzwischen hatten wahrscheinlich alle Joilani Partikel in ihrem Körper, die einst einem Terraner gehört hatten. Ironie des Schicksals.
    Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Vor ein paar Tagen war er sicher gewesen, daß diese Jungen und die Kinder ihrer Kinder nie erfahren würden, wie das Töten war. Nun war er nicht mehr so sicher … er schob den Gedanken fort.
    »Wurde das Logbuch bis heute weitergeführt?« erkundigte sich Salasvati vom Bullauge aus. Wie Jatkan hatte sie Mühe, ihre jungen Partner während der feierlichen Wartezeit ruhig zu halten.
    »O ja.«
    Jatkan blätterte vorsichtig durch die fleckigen Seiten des augenblicklichen Logbuches auf dem Pult. Es war aus den letzten Fetzen und Karten zusammengenäht, die sie gefunden hatten. Die geradlinige Joilani-Schrift füllte Seiten um Seiten: »Hunger … Rationen gekürzt … gebrochen, Wasser geht aus … Reparaturarbeiten … Rationen für Erwachsene noch einmal gekürzt … Sauerstoffmangel … die Kinder … Wasserausgabe eingeschränkt … Kinder brauchen … wieviel können wir noch … bald zu Ende, reicht nicht aus … wann …?«
    Ja, das war sein Leben gewesen und das seiner Gefährten; das Schwinden der Lebensgrundlage in diesem gewaltigen, rotierenden Zylinder, der ihre Welt war. Die ewige Unsicherheit: würden sie je herauskommen? Und wenn ja, wo? Oder würde es weitergehen, bis sie alle hier in der zeitlosen, lichtlosen Leere gestorben waren?
    Und die seltenen außergewöhnlichen Ereignisse wie das seltsame, hell erleuchtete Gespensterschiff, das plötzlich neben ihnen aufgetaucht war – unbegreifliche, fremde Wesen hatten aus den Fenstern geschaut –, um genauso plötzlich wieder zu verschwinden.
    Irgendwo in den magischen Computern der Traum klickten Relais und brachten sie zu den eingestellten Koordinaten, aber niemand wußte, wie man den Ablauf der Programme überprüfte oder ob sie überhaupt noch funktionierten. Die erbarmungslose Belastung des Wartens hinterließ auf verschiedene Weise bei ihnen allen ihre Spuren, während die Hunderttage-Zyklen nach Tausenden zählten. Manche wurden völlig schweigsam; andere flüsterten endlose Rituale; manche beschäftigten sich mit unwichtigen Aufgaben. Der alte Bislat war ihr Anführer gewesen; sein Mut und seine Fröhlichkeit waren unerschütterlich. Aber es war Jivadh gewesen, der trotz seiner schrecklichen Tat, trotz seines selbstauferlegten Schweigens und seiner Verschlossenheit, irgendwie das Symbol ihres Glaubens war. Nicht, weil er die Traum gestartet oder weil er sie ein oder zweimal gerettet hatte; es war die Aufrichtigkeit seines Herzens, die alle spürten … Jatkan, der die alten Seiten durchblätterte, überlegte, daß es vielleicht für die Kinder am leichtesten war, weil sie kein anderes Leben kannten und seit ihrer Geburt auf den großen Tag warteten.
    Und dann – die veränderte Schrift auf der letzten Seite sprach für sich – war das Wunder geschehen, der erste der großen Tage war gekommen. Völlig unerwartet, als sie sich gerade auf eine Schlafperiode vorbereiteten, es waren inzwischen über dreitausend, hatte das Schiff gezittert, und unvertraute, knirschende Geräusche waren durch die Gänge gehallt. Sie waren wild aufgesprungen und aufgeregt herumgerannt. Metall stöhnte unter großer Belastung, es klapperte schrecklich – und das alte Schiff schaltete das Tau-Feld ab und glitt in den

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