Aus der Hölle zurück
Wochen begann ein dünnes Gewebe allmählich den Bauch zu überziehen. Der SS -Arzt, der sich für den seltenen Fall interessierte, daß sich das verbrannte Gewebe wieder regenerierte, beschloß zu experimentieren. Er ordnete an, über dem Bauch des Jungen eine Art Zelt aufzustellen, um eine Infektion zu verhindern.
Der Junge wurde mit Diät versorgt, konnte aber nur sehr geringe Mengen zu sich nehmen. Er trank viel. Die Tätigkeit der inneren Organe konnte den Heilungsprozeß gefährden. Auf Anweisung des SS - Arztes brachten ihm die Pfleger Wasser, um den zunehmenden Durst des Kranken zu stillen. Nur Tadeusz warnte den Jungen, er solle nicht zuviel trinken, ganz besonders, da er trotz der riesigen Wunde zu gesunden schien. Der Junge beachtete das aber nicht. Eines Nachts weckte mich ein lauter Aufschrei von der Pritsche des Lubliner Jungen, dann war es still. Ich quälte mich von meiner Pritsche und ging zu seinem Zelt. Er war tot. Später stellte sich heraus, daß er in der Nacht zuviel getrunken hatte. Dadurch war das noch schwache Gewebe geplatzt, er hatte eine innere Blutung bekommen und war gestorben. Andere hatten mehr Glück. Anfang Juni wurden mehrere Patienten der Mülsen-Gruppe aus dem Lagerkrankenbau entlassen.
Eines Tages brachte Tadeusz die Neuigkeit mit, daß die Alliierten in der Normandie gelandet seien und der Krieg in eine neue Phase eingetreten sei. Das war erfreulich, obwohl unsere Gefangenschaft weiterging. Ich lag bereits den zweiten Monat im Krankenbau. Die rechte Hand heilte ziemlich rasch, aber auf der linken wollte sich die Haut nicht regenerieren. Die Wunde auf dem Rücken verschorfte allmählich. Die quälenden Schmerzen ließen nach. Tadeusz brachte mir – meist abends – ein Stückchen Brot, eine Schüssel Suppe, zweimal auch eine Zwiebel. Durch die zusätzliche Verpflegung kam ich wieder zu Kräften, so daß ich nach zwei Monaten der Wundpflege anfangen konnte, kleine Aufgaben beim Inordnunghalten des Krankensaals zu übernehmen. Ich begann, anderen zu helfen. Wie groß war meine Verwunderung, als ich auf einer der fernsten Pritschen in der anderen Ecke des Saals Kolja entdeckte. So viele Wochen hatten wir im selben Raum gelegen und nichts voneinander gewußt. Das war kaum verwunderlich. Der Kopfverband hatte mein Gesicht verhüllt, und ihm hatte man ein Bein bis zum Knie hin amputiert. Er konnte sich nicht von der Pritsche rühren, und ich hatte mich kaum fortbewegen können.
Er freute sich, als er mich zu sehen bekam. In seinen Augen glitzerten Tränen. Ich war auch über seine Verstümmelung betroffen. »Weshalb? Weshalb müssen wir so leiden?« fragte er. Ich erfuhr von ihm, daß ein gutes Dutzend ausgehungerter Gefangener den verzweifelten Beschluß gefaßt hatte, die Fabrik in Brand zu setzen und einen Ausbruchsversuch zu wagen. Er erzählte mir, wie er aus dem brennenden Keller herausgekommen war, wie ihn eine MG -Salve am Bein erwischt und unterhalb des Knies den Knochen zerschmettert hatte und wie er die Besinnung verloren hatte. Die SS -Leute des Kommandos in Mülsen hatten alle russischen Kriegsgefangenen, die sie außerhalb des Fabrikbereichs antrafen, auf der Stelle erschossen. Es waren auch Polen, Tschechen und Franzosen umgekommen. So lautete das ungeschriebene »Gesetz« im Lager. Bei Kämpfen oder einer Massenflucht haftete jeder einzelne für alle und alle für jeden.
Am nächsten Tag, als Tadeusz mir eine Schüssel Suppe brachte, teilte ich sie mit Kolja. Ich ging noch mehrfach zu ihm, bis der SS - Arzt eines Tages alle Versehrten ins Lager entließ, darunter auch Kolja. Es war ein makaberer Zug – fast 20 sich gegenseitig stützende Unglückliche ohne Hände oder Füße.
Zum Abschied überließ ich Kolja die Hälfte meiner Scheibe Brot. Wir brachten keinen Ton heraus. Von Tadeusz erfuhr ich, daß man sie einer Gruppe von Behinderten aus den Quarantäneblocks zugeordnet und in unbekannter Richtung abtransportiert hatte.
Im Juli, dem dritten Monat meines Aufenthalts im Krankenbau, klaubte Tadeusz beim Verbinden meines Rückens mit der Pinzette noch zwei kleine Sandkörner aus den heilenden Wunden heraus. Eine Reihe glücklicher Umstände und die aufopferungsvolle Fürsorge des Auschwitz-Kameraden hatten mir das Leben gerettet. Tadeusz Kośmider (Lagernummer 624 vom ersten Auschwitz-Transport) erfreute sich als überaus nützlicher Pfleger eines gewissen Vertrauens der SS -Ärzte Fischer und Schmitz und konnte daher das Risiko eingehen, andere zu
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