Aus der Hölle zurück
»Gut, einverstanden!« sagte ich. Wahrscheinlich hätte ich mich vierteilen lassen, um nur nicht einen solchen Betreuer und Freund zu verlieren wie Tadek.
Er beschloß, mich sofort im Krankensaal unterzubringen und eine akute Blinddarmentzündung vorzutäuschen. Er erledigte alle Aufnahmeformalitäten bei Revierschreiber Goltz und Kapo Mathoy. Die Nacht verbrachte ich im Krankenbau. Mein Gott, schon wieder! Das wievielte Mal eigentlich im Laufe der mehr als drei Jahre? Am Vormittag des nächsten Tages, etwa gegen zehn, lag ich im Operationssaal. SS -Arzt Schmitz stank nach Schnaps. »Na Tadeusz, wo hast du denn deinen Schulkameraden gefunden?« Offensichtlich hatte Tadek ihm irgend etwas über mich erzählt. Gemeinsam mit Janusz und dem tschechichen Arzt Lulaj sollte er bei der Operation assistieren und die Instrumente vorbereiten. Tadeusz gab zurück: »Schon in Auschwitz, Herr Sturmbannführer.« »Ach so«, brummte der Chirurg. Indessen legte Janusz mir ein Stück Zellstoff mit Äther aufs Gesicht und sagte, ich solle zählen. Ich hörte noch die Stimme des SS - Arztes: »Na Tadeusz, du hast die Diagnose gestellt, und ich glaube dir. Aber wenn wir was anderes finden, dann kriegst du deinen Kameraden nicht mehr …« Dann war ich weg. In meinem Kopf wurde es erst gelb, dann rot. Es pochte. Irgend etwas klopfte – und ich kam zu mir auf der Pritsche im Krankensaal. Franek Gawryluk, der als Laborant fungierte, saß an meiner Pritsche. Als er sah, daß ich die Augen öffnete, fragte er: »Na, wie fühlst du dich? Ist alles in Ordnung? »Ich nickte. »Na, dann ist es gut, du hast nämlich fast drei Stunden geschlafen. Ich dachte schon, dich habe der Schlag getroffen.« Langsam kam ich zu mir. Ich registrierte, daß mir eigentlich nichts weh tat. Als Tadeusz kam, gab er mir jedoch eine »kalte Dusche«. »Gut, daß das rausgekommen ist. Es sah nicht schön aus. Wenn die Narkose nachläßt, wird es etwas weh tun, so in zwei, drei Stunden. Aber mach dir nichts draus.« Nach einiger Zeit verspürte ich auf der rechten Seite einen ausgedehnten Schmerz, der sich bei jedem tieferen Atemzug verstärkte. Ich versuchte also, langsam und flach zu atmen.
Am wichtigsten ist, daß ich mich vor dem Transport gedrückt habe – sagte ich mir. Ich mußte es einige Zeit im Krankenbau aushalten. Und schließlich würden vielleicht auch dieser verfluchte Krieg und die Haft ein Ende nehmen. Doch wann? Wann endlich? Warum mußte man als Mensch so leiden? Und ewig Angst vor irgend etwas haben? Ich mußte an den unglücklichen Kolja aus Mülsen denken, der mich ganz ähnlich gefragt hatte: »Warum muß der Mensch so leiden?« Die Augen wurden mir feucht. Er brauchte keine Angst mehr zu haben, er mußte nicht mehr leiden … Und du Idiot – schalt ich mich im stillen selbst aus. Freu dich lieber, daß du noch etwas leiden kannst. Es gibt kein Leben ohne Leiden.
Durch die Blinddarmoperation entging ich dem Transport nach Leitmeritz. Nach mehrtägiger Genesung wurde ich mit Unterstützung von Tadeusz weiterhin als Kranker geführt. Häftlingsarzt Lulaj verpflichtete mich, schwereren Fällen durch kleine Handreichungen zu helfen. Es waren meist Häftlinge mit Magenoperationen. Schmitz versuchte sich nur allzu gern an Magenoperationen, oft ohne hinreichende Allgemeinuntersuchung und ohne entsprechende Diagnose. Doch er war für die getroffenen Entscheidungen verantwortlich. Unter den Gegebenheiten des Lagers gehörte jeder chirurgische Eingriff zu den schweren Operationen, vor allem eine Magenoperation!
Schmitz schnipselte zwei- oder dreimal in der Woche an mehreren Häftlingen herum. Viele von ihnen starben nach so einer »gelungenen« Operation.
Im Oktober trafen immer mehr Häftlingstransporte aus Warschau in Flossenbürg ein. Dabei handelte es sich vorwiegend um Aufständische, aber auch um Vertreter der Zivilbevölkerung, die zwangsweise aus der zerstörten Hauptstadt ausgesiedelt wurden. Damals erfuhr ich ebenso wie die anderen von der Niederschlagung des Aufstands, von den zahllosen Morden, die die Deutschen an der Zivilbevölkerung begangen hatten, und von den höllischen Qualen, die die Einwohner auf ihrer ziellosen Wanderung nach dem Verlassen der zerstörten Stadt durchgemacht hatten. Ich verfiel in tiefe Niedergeschlagenheit. Den Deutschen gelang einfach alles, uns Polen aber leider nichts. Sie hatten uns erneut bezwungen. Wiederum waren in den mehr als 60 Aufstandstagen die besten, dem Vaterland ergebensten Polen
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