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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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belegen, Frau Professor.«
    »Dazu wird es keine Möglichkeit geben. Ich werde nie wieder ein Seminar abhalten.«
    »Das ist aber eine ziemlich endgültige Aussage.«
    »Weil es nun mal endgültig ist: Meine wissenschaftliche Karriere ist vorbei.«
    »Das wissen Sie doch gar nicht.«
    »Und ob ich das weiß. Sie mag das enttäuschen, weil Sie natürlich wollen, dass ich mein altes Leben wieder aufnehme. Denn das bedeutet, dass ich den Verlust akzeptiere und all das.«
    »Ist es denn ein ›altes Leben‹? Sie haben schließlich noch bis vor zwei Wochen unterrichtet.«
    »Alles, was mit jener Lebensphase zu tun hat, betrachte ich als ›alt‹. Ich werde sie nicht fortsetzen.«
    »Obwohl mir der Fakultätsvorsitzende erst vor wenigen Tagen sagte, dass er Sie wiederhaben will?«
    »Ich sage nur ungern: ›Wie können Sie es wagen?‹ Trotzdem: Wie können Sie es wagen?!«
    »Was denn?«
    »Meinen Arbeitgeber zu kontaktieren und …«
    »Er hat mich kontaktiert.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Die Polizei musste die Universität benachrichtigen, als sie Ihren Ausweis von der New England State in Ihrem Geldbeutel entdeckte. Man hat mit Professor Sanders gesprochen. Er wiederum hat sich die Mühe gemacht, uns anzurufen, um zu hören, wie es Ihnen geht.«
    »Der Mann hat mich stets als Problem betrachtet.«
    »Mir hat er etwas anderes erzählt. Selbst der Universitätspräsident hat angerufen, um sich nach Ihrem Zustand zu erkundigen.«
    »Er ist der Typ, dem nicht mal im Traum einfällt, sich mit jemandem unterhalb der Geschäftsführerebene zu unterhalten.«
    »Sie sind verständlicherweise verbittert, weil …«
    »Mittlerweile hasse ich die Welt.«
    Eine lange Pause entstand, in der Dr. Ireland meine Worte auf sich wirken ließ.
    »Wie ich Ihnen bereits neulich sagte, werden Sie nie mit diesem Vorfall abschließen. Sie werden sich mit der Zeit irgendwie damit arrangieren. Ich will auch gar nicht beschönigen, was wirklich furchtbar ist. Ihre Tochter ist …«
    »Halten Sie den Mund«, zischte ich.
    »Es ist nur so, dass Sie versucht haben, diesen Gedanken für immer zum Schweigen zu bringen, doch ohne Erfolg. Sie sind wieder unter den Lebenden und müssen sich der schrecklichen Realität erneut stellen. Oder aber Sie können dafür sorgen, dass sich die Geschichte wiederholt, und sich umbringen, sobald Ihr Versicherungsschutz abläuft und die Krankenhausverwaltung, sobald Sie wieder laufen können, beschließt, Sie vor die Tür zu setzen. Auch wenn ich alles dafür tun werde, dass wir Sie hierbehalten. Denn mir wäre es lieber, ich könnte Ihnen das Leben retten. Aber das kann ich nicht, wenn Sie dermaßen fest entschlossen sind, es zu beenden. Sie können mir erzählen, was Sie wollen, mir vormachen, dass Sie meine Worte ernst nehmen, oder mir sogar vorspielen, dass es Ihnen besser geht. Aber ich werde Ihnen kein Wort glauben.«
    Ich senkte den Kopf. Ich suchte nach einer Antwort, aber mir fiel nichts ein. Ich spürte, wie ich wieder das Gefühl hatte, zu ertrinken.
    »Als ich in Chicago lebte, war die führende emeritierte Psychiaterin des Krankenhauses eine ältere Deutsche. Vielleicht war sie auch Österreicherin, aber das spielt in dem Fall keine große Rolle. Wie dem auch sei, sie hatte Dachau überlebt, und ich erfuhr, dass ihr Mann und zwei Söhne im Konzentrationslager umgekommen waren. Und damit nicht genug – man hatte während ihrer Gefangenschaft auch noch medizinische Experimente an ihr vorgenommen. Aber die Frau, die ich kennenlernte, war eine fantastische, unbeugsame Ärztin, die nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, dort ein neues Leben begonnen und ein hohes Tier von der philosophischen Fakultät in Chicago geheiratet hatte. Ich besuchte einmal eine ihrer Vorlesungen – es ging um das Thema Schuld, genauer: um die Schuldgefühle der Überlebenden –, und jemand fragte, wie sie es angesichts des vielen Leids und der furchtbaren Verbrechen geschafft hätte, nicht unterzugehen? Ihre Antwort werde ich nie vergessen. Sie zitierte Samuel Beckett: ›Ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen.‹«
    »Das ist aus Der Namenlose «, sagte ich.
    »Genau. Der Namenlose .«
    Wir schwiegen. Dann sagte ich: »Ich kann nicht weitermachen, Doktor.«
    »Ich weiß. Aber das gilt jetzt. Und wer weiß, mit der Zeit …«
    »Ich kann nicht weitermachen. Ich werde nicht weitermachen.«
    3
    Auf diese Bemerkung hätte ich verzichten müssen. Ich hätte nicht reden dürfen, ohne nachzudenken.

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