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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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Aber ich dachte nach. Ich wusste, was ich sagte, wusste, dass ich die Wahrheit sprach. Aber dadurch hatte ich Dr. Irelands schlimmste Befürchtungen bloß bestätigt. Ich war ein hoffnungsloser Fall.
    Es ist Dr. Ireland hoch anzurechnen, dass sie nie auf diese Bemerkung zurückkam. Sie erhöhte einfach nur meine Dosis Mirtazapin um fünfzehn Milligramm. Die schaltete mich aus, linderte aber nicht im Geringsten meine Seelenqualen, die jede wache Stunde zu füllen schienen. Dank der Medikamente schlief ich nachts neun Stunden am Stück durch. Wenn ich aufwachte, war da immer diese Minute angenehmer Verwirrung, in der ich mich fragte, wo ich war. Dann berührte meine Zunge meine genähten Lippen, und alles war sofort wieder da. Wie sehr ich mir doch wünschte, diesen Moment zwischen Schlafen und Wachen festhalten zu können, in dem ich keinerlei Erinnerung mehr zu haben schien, in dem ich einfach nur benommen war. Denn war ich erst mal wieder voll da – und damit auch alle unterdrückten Gedanken –, wollte ich nur noch sterben.
    Schwester Rainier hatte stets Frühschicht und schien zu bemerken, wie ich nach dem Aufwachen jedes Mal von Schwermut überwältigt wurde. Ich hatte die Augen noch keine fünf Minuten geöffnet, da reichte sie mir auch schon ein Glas Orangensaft und befahl mir, es so schnell wie möglich leerzutrinken.
    »Das erhöht den Blutzuckerspiegel«, pflegte sie zu sagen.
    Schwester Rainier sprach nie mehr von dem Kind, das sie verloren hatte, und auch nicht von meinem gescheiterten Selbstmordversuch oder von dem alles durchdringenden Kummer. Kummer. Was für ein harmloses Wort für das, was ich fühlte! Es gab Momente, in denen ich wirklich verrückt wurde, in denen ich fest davon überzeugt war, mich nie, niemals von dem, was passiert war, zu erholen. In denen mir vollkommen klar war, dass das Leben von nun an nichts weiter als eine einzige Agonie sein würde.
    Obwohl ich mich bemühte, diese nicht nachlassende Verzweiflung zu verbergen, ließ mich Schwester Rainier spüren, dass sie mich im Auge behielt. Wenn ich winzig klein zusammengerollt im Bett lag, klopfte sie mir fest auf die Schulter und sagte: »Ich schicke Sie jetzt zur Physio.« Wenn sie spürte, dass ich mich in meiner Schwermut verlor, bestand sie darauf, dass ich das Radio neben meinem Bett anmachte und NPR hörte. Wenn ich mit niemandem kommunizieren wollte, zwang sie mich, mit ihr zu reden.
    Sie brachte es fertig, jeden Morgen eine New York Times auf mein Bett fallen zu lassen. Sie hatte nämlich den einzigen Laden in Mountain Falls gefunden, der sie verkaufte. Sie befahl mir, »mich über die Welt zu informieren«. Obwohl mein Bein immer noch eingegipst war, ließ sie mich mindestens zweimal am Tag eine halbe Stunde im Krankenhaus herumlaufen. Anfangs mit einem Gehwagen, nach etwa einer Woche bereits mit einer Krücke. Und als der Augenverband abgenommen wurde, stellte sie mir einen Fernseher ans Bett und zwang mich, jeden Tag eine Stunde lang die Nachrichten zu sehen.
    Ich wusste, warum sie mich drängte, eine anständige Zeitung zu lesen, NPR zu hören und mitzubekommen, was in der Welt vor sich ging. Das sollte mich nicht nur ablenken und die Zeit totschlagen, sondern auch dafür sorgen, dass ich mich mit irgendetwas anderem als mit meinem eigenen Kummer befasste.
    Auch Dr. Ireland versuchte mir klarzumachen, dass es so etwas wie ein Leben jenseits des Krankenhauses gab. Zwar kam sie nicht mehr auf meine Bemerkung zu sprechen, dass ich mit meiner Trauer nicht leben konnte. Aber sie bestand darauf, dass ich von meiner Tochter erzählte, mich erinnerte und nach Möglichkeit darüber sprach. Viel war das allerdings nicht, denn jedes Mal, wenn mir ihr Name über die Lippen kam, erfasste mich eine unbeschreibliche Traurigkeit. Aber Dr. Ireland ließ nicht locker – außerdem wollte sie alles über meine Beziehung zu Theo wissen. Darüber, wie mich meine extremen Sorgen in den Wochen vor dem Unfall dermaßen abgelenkt hatten, dass ich in dem entscheidenden Moment, in dem sich der Hund losriss …
    »Machen Sie Theo deswegen Vorwürfe?«
    »Er war nicht dabei. Ich mache mir Vorwürfe.«
    »Aber diese Firmenpleite – die Schulden, die er mit dieser Frau angehäuft hat, die wütenden Gläubiger, die nicht unbegründete Angst, man könnte Ihnen die Wohnung wegnehmen … Wenn es diese Sorgen nicht gegeben hätte, dann …«
    »Ich übernehme die volle Verantwortung für das, was passiert ist.«
    »Aber hassen Sie ihn

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