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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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beizupflichten und so zu tun, als wäre alles, was passiert ist, nicht meine Schuld! Ich habe nicht vor, mich der großen neuen amerikanischen Tradition zu beugen und keine Verantwortung zu übernehmen. Ich bin schuldig. Und zwar gleich mehrfach.
    Das Mirtazapin wirkte, und ich sagte Schwester Rainier, dass mir die Tabletten ein wenig Linderung verschafften.
    »Sie meinen, es geht Ihnen damit besser?«, fragte sie etwa eine Woche nachdem ich mit der Einnahme begonnen hatte.
    Ich wusste, dass das eine Fangfrage war. Antidepressiva brauchen Wochen, um sich auf das Gehirn und den Stoffwechsel auszuwirken. Obwohl sie mich schlafen ließen wie eine Tote, merkte ich, dass sie ansonsten keine große Wirkung hatten. Insofern wollte ich mich lieber nicht dadurch verdächtig machen, dass ich sagte, ich fühle mich »eins mit mir selbst« oder solchen Unsinn. Am besten, ich sagte: »Sie lassen mich schlafen, ohne mich innerlich abzutöten.«
    Das nahm mir Schwester Rainier ab. Sie fand es auch gut, dass ich zum Gehwagen griff, um mich damit auf der Station fortzubewegen. Zu meiner großen Enttäuschung blieb ich die einzige Patientin auf der psychiatrischen Station. Und obwohl man mir einen Fernseher anbot, lehnte ich ihn ab und bat stattdessen um ein Radio, in dem ich das lokale NPR -Programm hörte. Außerdem entdeckte ich die mickrigen Bestände der Mountain-Falls-Krankenhausbibliothek. Die rund hundert Bücher in den Regalen hielten sogar die ein oder andere Überraschung bereit: Zum Beispiel ein eselohriges Exemplar von Graham Greenes Das Ende einer Affäre , ein Roman, der mich schon bei meiner ersten Lektüre vor acht Jahren sehr beeindruckt hatte, den ich jetzt aber wegen seiner Thematik (persönlicher Verlust und der ständige empfindsame Widerhall der Toten) schwer verdaulich fand. Trotzdem zwang ich mich, ihn noch mal zu lesen, und versuchte, mich überwiegend auf die Genauigkeit von Greenes Sprache, ihren fantastischen Fluss zu konzentrieren; auf seine Einsicht, dass wir dazu verdammt sind, spontanen Regungen zu folgen, und dass der Mensch andere um jeden Preis besitzen will. Er tröstete mich, wie einen jede gute Literatur tröstet – indem er mir zeigte, dass alles fehlerhaft, beschädigt, flüchtig ist und dass wir alle Gefangene unseres Bedürfnisses sind, irgendeine Ordnung in das Chaos des Lebens zu bringen.
    »Könnten wir noch einmal über den Unfall in Cambridge sprechen?«, fragte Dr. Ireland zu Beginn unserer nächsten Sitzung.
    »Ungern.«
    »Das kann ich mir denken. Aber es wäre hilfreich für unsere Zusammenarbeit, wenn ich aus Ihrem Mund erfahre, was genau passiert ist.«
    Ich zögerte.
    »Dafür ist es noch zu früh«, sagte ich schließlich.
    »Gibt es jemals einen richtigen Moment dafür? Ich will keine lange Geschichte hören. Nur eine simple Zusammenfassung der Ereignisse, die sich an jenem Januarnachmittag vor fünf Wochen zugetragen haben.«
    Ich starrte zu Boden. Und zwar nicht, um sie zu provozieren. Ich hielt es kaum aus, mir die Ereignisse wieder zu vergegenwärtigen, obwohl mein Gehirn mich ständig damit konfrontierte. Aber darüber reden? Sie formulieren, ihnen eine sprachliche Form geben? Das war zu viel.
    »Bitte …«, flüsterte ich.
    »Machen Sie es so kurz wie möglich.«
    Also holte ich tief Luft und atmete während des Sprechens aus. Ich brauchte höchstens zwei, drei Minuten, aber ich hatte alles erzählt, bis zu jenem Moment im Krankenhaus, als man mir mitteilte …
    »Und dann?«, fragte Dr. Ireland.
    »Dann bin ich zusammengebrochen.«
    »Obwohl alle sagen, wie gefasst und tapfer Sie in den darauffolgenden Wochen waren.«
    »Ich funktionierte nur noch. Ich tat so, als ob.«
    »Als ob was?«
    »Als ob ich damit fertig würde.«
    »Und wann merkten Sie, dass dem nicht so war?«
    »Das wusste ich schon die ganze Zeit. Aber ich redete mir ständig ein, weiterleben zu müssen wie bisher: zur Arbeit gehen. Unterrichten. Seminararbeiten benoten. Studentensprechstunden abhalten. Und irgendwann – irgendwann …«
    »Irgendwann, was?«
    »Irgendwann schafft man es, das zu bewältigen.«
    »Woher kommt dieses Bedürfnis nach ›Bewältigung‹?«
    »Ja, woher wohl? Wenn ich es schaffen würde, das Ganze zu bewältigen, könnte ich den Kopf irgendwie über Wasser halten. Das dachte ich zumindest.«
    »Obwohl Sie wussten, dass Sie kurz vor einem Zusammenbruch standen?«
    »Ja, obwohl ich das Gefühl hatte, dass mir der Kopf platzt. Bis mir immer klarer wurde, dass ich den Schmerz

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