Aus der Welt
Geist Gestalt an:
Wenn du dich nicht selbst zerstören kannst, was bleibt dir dann noch übrig?
Die Antwort kam ohne langes Überlegen, denn sie war so offensichtlich.
Dann scheidest du aus der Welt.
4
Ich brauchte ungefähr zwölf Stunden, um mein altes Ich zu entsorgen. Das ließ sich schnell bewerkstelligen. Nachdem ich der Frau an der Rezeption des Holiday Inn gesagt hatte, dass ich noch zwei Nächte bliebe, humpelte ich mithilfe meines Stocks über die Straße zu einem trostlosen kleinen Einkaufszentrum. Dort erwarb ich eine Telefonkarte mit einem Guthaben von 20 Dollar, etwas kalten Aufschnitt und Brot, eine Schere und einige Flaschen Wasser.
Zurück im Hotelzimmer schaltete ich mein Handy ein. Ich rief American Express, Visa, Discovery und MasterCard an und löste meine Konten auf. Alle vier »Kundenbetreuer«, mit denen ich sprach, zeigten sich bestürzt über meine Entscheidung, die Geschäftsbeziehung zu beenden. Die Amex-Frau fragte mich doch tatsächlich: »Haben wir Sie irgendwie verärgert?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe nur gerade beschlossen, dass ich Ihre Kreditkarte nicht mehr benötige.«
»Aber wir verlieren Sie nur sehr ungern.«
»Sie werden darüber hinwegkommen.«
Ich rief die Hotline meiner Bank in Boston an, um mich zu erkundigen, was noch auf meinen Konten war. Danach zerschnitt ich die Kreditkarten. Ein Stück Plastik behielt ich: die Scheckkarte für mein Girokonto, das mit heutigem Datum ein Guthaben von 23 863,84 Dollar aufwies. Damit dürfte ich eine Weile hinkommen, zumal mein Gehalt von der New England State nach wie vor monatlich einging.
Die New England State. Dort musste ich als Nächstes anrufen. Ich klappte meinen Laptop auf und wählte mich ins Internet ein. Ich hatte meine Mails nicht mehr abgerufen, seit ich vor fünf Wochen aus Boston geflohen war. Ich hatte 338 Nachrichten. Ich löschte sie, ohne eine einzige davon zu lesen, obwohl viele von Christy und von Kollegen, ja sogar von alten Klassenkameraden darunter waren. Irgendjemand musste meine E-Mail-Adresse weitergeleitet haben, nachdem …
Aber im Moment war es mir einfach unmöglich, Beileidsbekundungen zu lesen. Ebenso wenig konnte ich mich meiner besten Freundin stellen, die nicht lockerließ und mich unbedingt bei sich beherbergen wollte. Ich zählte achtzehn Mails von ihr. Klick, klick, klick … und schon fielen sie dem Vergessen anheim.
Nachdem ich auch den Papierkorb gelöscht hatte, schrieb ich Professor Sanders eine knapp und sachlich gehaltene Mail: Nach den jüngsten Vorfällen in meinem Leben bliebe mir keine andere Wahl, als meine Dozentenstelle mit sofortiger Wirkung zu kündigen. Ich danke ihm für seine Unterstützung nach …
Etwa eine Viertelstunde später erhielt ich folgende Antwort:
Liebe Jane,
ich bin gerade online – daher die schnelle Reaktion auf Ihre Mail. Natürlich haben sich alle hier Sorgen um Sie gemacht, und wir waren sehr erleichtert zu hören, dass Ihr Autounfall, so schrecklich er auch war, keine lebensbedrohlichen oder bleibenden Folgen hatte. Was Ihre Kündigung anbelangt, ist der Universität sehr daran gelegen, Sie zu halten. Sie werden derzeit von einem Doktoranden vertreten. Tim Burroughs ist begabt, kann Sie aber nicht ersetzen. Der Präsident lässt Ihnen persönlich ausrichten, dass er Sie als Fakultätsmitglied schätzt – und hat mir versichert, dass er Sie auch weiterhin voll bezahlen wird, bis Sie hoffentlich im Wintersemester zurückkehren. Diese Hoffnung wird von sämtlichen Fakultätskollegen geteilt – vor allem von mir.
Angesichts dessen, was Sie durchgemacht haben, kann ich gut verstehen, warum Sie sämtliche Verbindungen zu Ihrem bisherigen Leben kappen möchten. Sie sollten allerdings wissen, dass Sie trotz Ihrer Probleme an der New England State – und ich gebe gern zu, dass es nicht immer einfach für Sie war – von uns sehr geschätzt und von den Studenten unglaublich geliebt werden. Mit anderen Worten: Wir möchten Sie nicht verlieren.
Ich weiß nicht, ob Sie den Brief gelesen haben, den ich Ihnen nach dem Unfall geschrieben habe. Als meine Schwester vor einigen Jahren ihren neunjährigen Sohn an den Krebs verlor, schaffte sie es nicht, ein einziges Kondolenzschreiben zu lesen. Trotzdem möchte ich noch einmal unterstreichen, was ich damals schrieb: Eine Tragödie, wie Sie sie erlitten haben, ist so furchtbar, dass Sie sich Zeit nehmen müssen, einen Ausweg zu finden. Deshalb werde ich Ihre Kündigung vorerst nicht akzeptieren. Uns
Weitere Kostenlose Bücher