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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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ich wollte einfach nur woanders sein.
    Aber bevor ich diesen Bus über die Grenze nahm, musste ich zum Abschluss noch ein paar Dinge erledigen. Also duschte ich, zog mir frische Sachen an und bat das Zimmermädchen, das im Nebenzimmer putzte, um eine große Plastiktüte. Dann ging ich zurück in mein Zimmer, öffnete meinen Koffer und warf jedes Kleidungsstück, das ich besaß, hinein. Einschließlich der drei Paar Schuhe und des zweiten Mantels, wonach ich gegriffen hatte, als ich aus meiner Wohnung in Somerville geflohen war.
    Wenn man sich von der Vergangenheit befreien will, muss alles weg, was damit verbunden ist.
    Dann rief ich ein Taxi. Als es kam, bat ich den Fahrer, mich in die Stadt zu fahren. Er musterte misstrauisch die große Plastiktüte, die ich mit mir herumschleppte.
    »Kennen Sie hier einen Wohlfahrtsverband?«, fragte ich. »Ich habe hier eine Kleiderspende.«
    Er setzte mich vor einer Niederlassung der American Cancer Society ab. Ich bezahlte ihn, ging hinein und gab die Tüte der dicken, fröhlichen Frau hinter der Theke.
    »Wow … das ist aber sehr großzügig von Ihnen«, sagte sie.
    Da Mountain Falls ein Universitätsstädtchen war, gab es jede Menge Kleiderläden. Innerhalb von zwei Stunden hatte ich zwei Cordhosen, drei Jeans, drei Pullis, ein halbes Dutzend T-Shirts, ein Paar Winterstiefel, einen Parka, einen einwöchigen Unterwäsche- und Sockenvorrat, eine Reisetasche mit Rädern und eine neue Lederjacke gekauft, ein Sonderangebot für gerade mal 95 Dollar. Insgesamt gab ich um die 700 Dollar aus – war aber jetzt für den Rest des Winters bestens gerüstet.
    Die Verkäuferin, die mich beim Jackenkauf beriet, sagte, dass es zwei Straßen weiter in einem Salon namens Fine Cuts eine »wirklich gute Friseurin namens January« gäbe. Sie ließ es sich nicht nehmen, January für mich anzurufen und ihr mitzuteilen, ich sei bereits zu ihr unterwegs: »Bitte kümmere dich um meine neue Freundin, und sei ganz besonders nett zu ihr.«
    Obwohl ich ihre Hilfsbereitschaft rührend fand, riefen mir die vielen Fragen, mit denen sie mich bombardierte – »Neu in Mountain Falls?«, »Was arbeiten Sie?«, »Haben Sie einen Freund?« –, wieder in Erinnerung, warum es mir niemals möglich sein würde, in einer Kleinstadt zu leben. Ich müsste meinen Koffer nur auspacken, und schon würde man sich auf mich stürzen. Google verrät alles – und sofort wüsste jeder über mich Bescheid. Bestimmt würde man sich in einer Großstadt auch auf mich stürzen, aber da konnte ich wenigstens anonym bleiben.
    January entpuppte sich als eine junge Frau Anfang zwanzig. Sie war klein und superdünn. Sie kaute Kaugummi, hatte ein Piercing im linken Nasenflügel und violette Fingernägel. Als ich auf ihrem Stuhl Platz nahm und sie mein glattes braunes Haar musterte, das mir weit über die Schultern fiel, fragte sie: »Und? Was fangen wir damit an?« Meine Antwort entlockte ihr ein Lächeln.
    »Alles abschneiden.«
    »Sie wollen, dass ich Sie kahl rasiere?«
    »Nicht ganz so radikal. Aber ich hätte gern einen Kurzhaarschnitt.«
    »Kurz und stachelig?«
    »Eher so wie Johanna von Orleans.«
    »Hä?«
    »Egal. Haben Sie schon mal einen Film mit Audrey Hepburn gesehen?«
    »Mit wem?«
    »Ein Pagenkopf.«
    Neben ihr arbeitete eine Friseurin von Mitte fünfzig. Sie hieß Estelle, und ihr gehörte der Laden. Sie bekam unseren kurzen Wortwechsel mit und stupste January an.
    »Winona Ryder.«
    Der Groschen fiel, und January sagte: »Ah, verstehe, ja, cool.«
    Ungefähr eine Stunde später besaß ich eindeutig einen neuen Look.
    »Ich wollte nicht, dass es zu männlich wirkt«, sagte January, als sie mich trocken föhnte. »Aber auch nicht zu mädchenhaft. Und was sagen Sie, sieht es nicht cool aus?«
    Ich betrachtete mich im Spiegel. Lippen und Stirn wiesen immer noch Narben auf. Aber January hatte mir tatsächlich ein anderes Aussehen verliehen. Ich sah nicht mehr aus wie eine strenge Uni-Dozentin. Sondern wie … na ja, irgendwie anders.
    »Sie sehen fünf Jahre jünger aus – wobei Sie vorher auch nicht alt aussahen.«
    Meine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und dunkle Ringe aufwiesen, sprachen eine andere Sprache.
    »Entschuldigen Sie die Frage, aber hatten Sie einen Unfall?«, fragte January, als sie mein Haar noch einmal richtete und ihre linke Hand meine Stirn berührte, die immer noch Blutergüsse aufwies.
    »Ja. Ich hatte einen Unfall.«
    »Immerhin sind Sie noch mal davongekommen.«
    »Sozusagen.«
    »Und

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