Aus der Welt
Kopf gesenkt und vertiefte mich in mein Buch, als wir einen Zipfel des Glacier National Park durchquerten und dann durch die kahle Prärielandschaft fuhren. Ich war unter den Passagieren eine der wenigen Außenseiter, die meisten waren amerikanische Ureinwohner. Einmal sah ich auf und stellte fest, dass wir in einem Indianerreservat gelandet waren. Die Landschaft war eisbedeckt und leer, die Straßen schmal und kurvig, und es sah genau so aus, wie ich mir die Steppe Zentralasiens vorstellte: als trostlose winterliche Leere.
Die meisten Mitfahrer stiegen in Jefferson aus, bestehend aus einer Ansammlung wenig anheimelnder Fast-Food-Schuppen sowie aus einem riesigen Casino, das offensichtlich von einem Indianerstamm betrieben wurde, aber trotzdem ein Paradebeispiel für den amerikanischen schlechten Geschmack war. Nur vier von uns fuhren nach Kanada weiter. Die Straße zur Grenze war noch abenteuerlicher als die, die wir gerade bewältigt hatten, denn plötzlich begann es zu stürmen, und der Bus geriet in dickes Schneetreiben. Der Fahrer gab sein Bestes, um die Haarnadelkurven bei mörderischem Gefälle und fehlender Sicht zu bewältigen. Als mir dämmerte, dass ich unter Umständen auf einen weiteren Unfall zusteuerte, ließ ich das Buch sinken. Aber dann dachte ich: Na und?
Der Fahrer war Vollprofi und schaffte es irgendwie, diesen Slalomparcours hinter sich und uns nach Kanada zu bringen. Die letzten hundert Meter waren Anschauungsunterricht in moderner Realpolitik: überall Schilder, die darauf hinwiesen, dass wir die Vereinigten Staaten in Kürze verlassen würden (so als sei das gleichbedeutend damit, aus der Welt zu fallen). Dann verengten Betonpoller die Straße, wir passierten das amerikanische Grenzhäuschen und gelangten auf kanadischen Boden.
Der Bus hielt vor einem gedrungenen Amtsgebäude, an dessen Flanke eine große Flagge mit Ahornblatt flatterte.
»Bitte alle aussteigen«, sagte der Fahrer.
Draußen herrschten Minusgrade, und wir mussten warten, bis der einsame Einwanderungsbeamte im Glashäuschen jeden der vier Reisenden befragt hatte. Ich stieg als Letzte aus und kam als Letzte dran. Ich händigte meinen kanadischen Pass aus.
»Wie lange waren Sie aus Kanada weg?«, fragte mich der Beamte.
Geht das schon wieder los! , dachte ich.
»Ich habe hier nie gelebt, war aber vor ein paar Jahren in Nova Scotia zu Besuch.«
Die Antwort war korrekt, aber nicht die klügste, da er jetzt wissen wollte, woher ich meine kanadische Staatsbürgerschaft hätte, warum ich vorher nie in Kanada gelebt hätte und jetzt erst zurückkehrte, blablabla. Die wichtigste Regel Beamten gegenüber lautet: einfache Antworten geben. Hätte ich gesagt, ich sei eine Woche außer Landes gewesen, hätte er mich durchgewinkt. Wie sich herausstellte, winkte er mich trotzdem durch – aber erst nach einem sinnlosen Verhör, das wahrscheinlich eher seiner Langeweile als irgendwelchen Bedenken geschuldet war, ich könnte mit falschen Papieren einreisen.
Nachdem man meine Einreise genehmigt hatte, bestieg ich erneut den Bus, ließ mich in meinen Sitz fallen, versuchte zu lesen, gab mich dem Schlaf hin und wachte erst auf, als wir mit einem Ruck anhielten und der Fahrer verkündete, dass wir doch tatsächlich Calgary erreicht hätten.
Ich öffnete die Augen – und wünschte mir schon nach einer halben Stunde, ich hätte es nicht getan.
Vielleicht lag es am schlechten Licht, dem grauen Schneematsch überall oder dem Stahlbeton, der jede Ecke der Stadt zu kennzeichnen schien. Aber als ich Calgary zum ersten Mal sah, hasste ich es auf Anhieb.
In dieser ersten halben Stunde, in der ich die Bushaltestelle verließ, ein Taxi bestieg und den Fahrer bat, mich zum nächstgelegenen Hotel zu bringen, redete ich mir ein: Es muss einfach besser werden. Dieser Teil der Stadt mit seinen gesichtslosen Wohn- und Bürotürmen, den breiten, anonymen Straßen, den Einkaufszentren, der Brutalo-Architektur, die direkt aus einem polnischen Film der Kommunistenära zu stammen schien, sorgte dafür, dass ich mich fragte, wie ich ausgerechnet auf Calgary gekommen war. Andererseits passte die Stadt zu meiner derzeitigen Situation. Als du dachtest, du könntest nicht tiefer sinken, bist du hier gelandet.
Der Fahrer – ein Sikh, der sich gegen die Kälte vermummt hatte – fragte mich, was für ein Hotel mir vorschwebe.
»Ein billiges.«
Ein weiterer Fehler. Er brachte mich zu einem Hotel, das völlig am Stadtrand zu liegen schien – eine Art
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