Aus der Welt
Details über mich preiszugeben. Ich kam herein, stöberte das Angebot durch, machte hin und wieder einen größeren Kauf und gönnte mir ansonsten ein, zwei Bücher die Woche. Unsere Gespräche beschränkten sich auf Literatur, die Nachrichten oder auf einen neuen Film, der gerade im Uptown, im Globe oder im Plaza angelaufen war: Das waren die drei besten Kinos der Stadt.
Eine ähnlich freundlich-distanzierte Beziehung hatte ich zu jedem Ladeninhaber, den ich in meinem Viertel kennenlernte. Der Typ von International News (wo ich den New Yorker und die New York Review of Books bekam), die Frau im Schreibwarenladen, in dem ich Tintenpatronen und Notizbücher kaufte, der Typ vom Wein- und Käseladen an der 11. Avenue, bei dem ich zweimal die Woche vorbeischaute, um meine Vorräte aufzufüllen – sie alle kannten meinen Namen. Sie tauschten Höflichkeiten mit mir aus und versuchten nie, mehr über mich zu erfahren. Denn das Signal, das ich aussandte, lautete: Bitte kommen Sie mir nicht zu nah. Die Stadt mochte klein sein, aber es war immerhin eine Stadt. Insofern ließ man es gelten, wenn jemand ein bestimmtes Maß Anonymität suchte. Denn dieses unabänderliche Großstadtgesetz galt sogar in Calgary.
Zeit. Plötzlich hatte ich jede Menge Zeit. Ich war ohne Arbeit, ohne Bindungen, ohne Verantwortung, ohne den Zwang, irgendetwas tun zu müssen, außer den Tag zu überstehen. Ich ertappte mich dabei, immer nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, mich zu beschäftigen. Das Café. Die Buchhandlung. Dann nach Hause, um drei Stunden zu lesen. Ein längerer Spaziergang, bei dem ich auch Lebensmittel kaufte. Wieder nach Hause, um neunzig Minuten Französisch zu lernen – ich hatte mir Lehrbücher und ein paar einfache Texte gekauft, war fest entschlossen, die Sprache endlich zu knacken …, wusste aber auch, dass mir das half, die Zeit totzuschlagen. An den meisten Abenden zwang ich mich, auszugehen. Ins Kino, in ein Konzert, zu einer Lesung – egal was, Hauptsache, es fesselte meine Aufmerksamkeit.
Zeit, Zeit, Zeit. Gegen Ende April wurde es langsam wärmer. Ich kaufte ein gebrauchtes Fahrrad mit zwei Körben, in die auch größere Einkäufe passten. Damit bewegte ich mich vorwärts. Mit Ausnahme von Veranstaltungen an der University of Calgary brachte mich das Rad überallhin, wo ich hinwollte: zu den Kinos, zu einem Café in Kensington, das den Kaffee selbst röstete, zu den Lesungen zweimal die Woche in der McNally-Buchhandlung an der 8. Avenue bis hin zum Klassikkonzert in der Jack Singer Hall …
Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir einen Wagen mieten und die Stadt in Richtung Banff und den Rockies verlassen können. Aber ich wusste, dass ich den Anblick von etwas so Malerischem, Dramatischem, Überwältigendem noch nicht ertragen konnte. Am besten, ich hielt mich an Calgarys Beton-Banalitäten. Seine nichtssagenden Behausungen spiegelten meine Innenwelt perfekt wider.
Zeit, Zeit, Zeit. Ich gab nach und kaufte einen kleinen Fernseher sowie einen DVD -Player. Aber ich beantragte keinen Kabelanschluss. Ich wurde Kundin in einem sehr guten DVD -Verleih ein paar Straßen weiter. Es half mir durch jene Nächte, in denen die Tabletten nicht ihre magische Wirkung taten, ich hochschreckte und etwas lesen oder anschauen musste, um die dunklen Gedanken zu verjagen. Ich stellte fest, dass ich nachts nichts Lebensbejahendes oder Tröstliches ertrug. Keine Frank-Capra-Filme, kein x-tes Mal E. T. Ich las mich durch Dickens’ Bleak House und war fasziniert, wie er einen solch melancholischen Gesellschaftsroman schreiben konnte. Ich sah mir Carl Theodor Dreyers Tag der Rache an – es ging um die Hexenverbrennung im 17. Jahrhundert in Dänemark – und sämtliche Inselfilme von Bergman. Als ich in der Filmbibliothek stand und mich dabei ertappte, nach Klimows Geh und sieh zu greifen (ein Film über die Nazimassaker in Weißrussland), bekam ich einen heftigen Lachkrampf und fragte mich: Werde ich es jemals schaffen, eine Nacht ohne hohe Dosen von Verzweiflung zu überstehen?
Ein Problem, das durch den vielen Alkohol verstärkt wurde, den ich konsumierte. Nach einem Film oder Konzert pflegte ich nach Hause zu gehen, drei Gläser Wein zu trinken und meine Tabletten zu nehmen. Dann schlief ich sofort ein. Vier Stunden später war ich wieder hellwach. Also schlug ich meinen Dickens auf oder legte Bergmans Passion ein, wobei ich drei weitere Gläser Rotwein trank – um mit viel Glück kurz vor sieben einzuschlafen und bis Mittag
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