Aus der Welt
Lehrerinnenart klar: Wenn du etwas von mir willst, tust du gefälligst, was ich dir sage. Bis mein typisch amerikanischer Wutausbruch ihre Strategie sabotiert hatte.
Anschließend war ich Mildred auf eine merkwürdige Art dankbar. Indem sie mich wütend gemacht hatte, hatte sie mich zu etwas provoziert, dem ich mich lange verweigert hatte, sogar während meiner Sitzungen mit Dr. Ireland, nämlich die furchtbare, aber unbestreitbare Wahrheit auszusprechen: Meine Tochter ist tot.
Diese Wahrheit sprach ich auch wenige Tage später aus, als ich in der Praxis erschien, die man mir empfohlen hatte. Meine Ärztin hieß Sally Goodchild, eine Frau in den Vierzigern, ruhig, direkt und, wie ich merkte, eine schnelle Diagnostikerin. Ich hatte ihren Untersuchungsraum kaum betreten, da musterte sie mich auch schon eindringlich.
»Also, Jane«, sagte sie, nachdem sie sich meinen Gesundheitsfragebogen angesehen hatte. »Sie sind neu in meiner Praxis. Und auch neu in Calgary, wie ich sehe. Und Sie haben Schlafprobleme, obwohl Sie 30 mg Mirtazapin pro Tag einnehmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Wie schlimm ist Ihre Depression?«
»Ich kann nur nicht schlafen.«
»Wenn Sie nicht einmal mithilfe von Mirtazapin schlafen können, haben Sie ernsthafte Depressionen. Und die Ärztin, die Ihnen die Tabletten ursprünglich verschrieben hat, sitzt in den Vereinigten Staaten?«
Ich nickte.
»Gab es für diese Depression irgendeinen Auslöser, wie wir Mediziner sagen?«
Wieder sprach ich es aus.
»Meine Tochter Emily …«
Ich schaffte den Satz und starrte auf meine Hände. Dr. Goodchild war sichtlich erschüttert von dieser Aussage, bemühte sich aber fairerweise nicht, das zu verbergen.
»Das ist ja schrecklich«, sagte sie. »Dann wundert mich nicht, dass Sie mit dieser Dosis nicht mehr auskommen.«
»Ich muss schlafen, Frau Doktor.«
Sie fragte, ob ich einen Therapeuten wolle.
»Ich habe schon eine Therapie hinter mir«, sagte ich. »Und die hat mir kein bisschen geholfen.«
»Arbeiten Sie momentan?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie überlegte einen Moment und sagte: »Na gut, ich werde Ihre Dosis Mirtazapin um weitere 15 mg erhöhen, rate Ihnen aber auch, sich nach einem Job umzusehen. Das hilft Ihnen, den Tag besser zu strukturieren.«
»Ich will meinen Tag nicht strukturieren .«
»Was wollen Sie dann, Jane? Was könnte Ihnen helfen?«
»Was mir helfen könnte? Dass meine Tochter wieder lebendig wird.«
»Aber das geht nicht.«
»Und da ich mich nicht umbringen kann … sosehr ich es mir auch unablässig wünschte …«
»Und Sie halten sich deswegen für feige?«
»Ja, das tue ich.«
»Nun, ich persönlich finde es geradezu heldenhaft, weiterzuleben, obwohl es keine Lösung gibt.«
»Nein, das ist kein bisschen heldenhaft.«
»Ganz, wie Sie wollen. Sie haben sich entschieden, zu leben. Aber mit dieser Entscheidung geht die Einsicht einher, dass es keine Lösung gibt. Es gibt nur ein einziges Mittel – ein Mittel, das zwar den Schmerz nicht zum Verschwinden bringen, ihn aber vorübergehend lindern kann.«
»Und das wäre?«
»Gehen Sie wieder arbeiten.«
5
Es gab Unmengen von Stellenangeboten in Calgary. Jede Woche stand ein anderer Artikel über den Arbeitskräftemangel im Herald: Der boomenden Stadt fehlte es an Personal, das Fast Food servierte, Büros putzte, ja es mangelte sogar an Lehrern.
Ich überflog die Stellenanzeigen. Ich informierte mich in Jobcentern. Es stimmte, es gab offene Unterrichtsstellen. Bei meinen Qualifikationen würde ich bestimmt etwas finden können. Aber dann müsste ich mich vor einen Haufen Kinder stellen und reden. Ich müsste mit Kindern zusammen sein. Selbst wenn es sich um Pubertierende kurz vor dem College handelte, wären es nach wie vor Kinder. Und das könnte ich nicht ertragen.
Da entdeckte ich per Zufall die städtische Central Public Library. Ich fuhr gerade mit dem Fahrrad zu einer Nachmittagsvorstellung in einem Multiplexkino, das unweit des Marktplatzes von Eau Claire lag, und beschloss spontan, in Chinatown einen Teller Dim Sum zu essen. Das bedeutete, einen Umweg zu machen, links in den Macleod Trail (eine der vielen Durchfahrtsstraßen in Calgary) einzubiegen und an einer hässlichen Ansammlung städtischer Gebäude vorbeizufahren. Ich war hier schon oft langgefahren – hatte aber nie auf die Verwaltungsgebäude geachtet, die direkt aus der Architekturschule des Stalinismus zu stammen schienen. Heute sah ich zufällig auf und entdeckte ein Schild, auf dem
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