Aus der Welt
im Bett liegen zu bleiben. Als ich nach drei schlafgestörten Monaten wieder einmal mit einem Kater wach wurde, dachte ich: Vielleicht sollte ich lieber etwas unternehmen.
Sprich, einen Arzt aufsuchen. Und auch, mich endlich bei den Behörden melden. Ich war nun schon vier Monate in Calgary und sollte Kanada endlich mitteilen, dass ich seine Einwohnerin bin.
Noch am selben Nachmittag begab ich mich zur Meldebehörde. Ich füllte die notwendigen Formulare aus. Ich zeigte meinen Pass. Ich sprach mit einer höflichen, aber kühlen Frau, die mir jede Menge Fragen dazu stellte, warum ich erst jetzt, mit dreiunddreißig, eine Sozialversicherungsnummer beantragte.
»Ich habe noch nie in Kanada gelebt.«
»Und warum?«, fragte sie in amtlichem Ton.
»Weil ich in den Vereinigten Staaten aufgewachsen bin.«
»Woher haben Sie dann einen kanadischen Pass?«
»Mein Vater war Kanadier.«
»Und was hat Sie so plötzlich veranlasst, nach Kanada zu ziehen?«
»Ist das irgendwie von Bedeutung, um eine Sozialversicherungsnummer zu erhalten?«
»Ich muss mich hier an die Anweisungen halten. Ich muss sicherstellen, dass Sie dazu berechtigt sind.«
»Sie haben meinen Pass. Sie können sich gern mit Ottawa austauschen, ob er auch gültig ist. Was brauchen Sie sonst noch?«
»Ich habe Sie etwas gefragt und erwarte eine Antwort. Warum haben Sie die Vereinigten Staaten zugunsten Kanadas verlassen?«
Ohne zu zögern, platzte es aus mir heraus: »Meine dreijährige Tochter wurde von einem Auto totgefahren. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Ich klang so wütend und laut, dass es mucksmäuschenstill im Raum wurde. Alle anderen Angestellten und Wartenden wirkten wie erstarrt. Während des schockierten Schweigens, das nun folgte, stand der Angestellten die Angst ins Gesicht geschrieben – so als wisse sie, was jetzt kam.
Ich erinnere mich noch gut, was David einst erzählte, als eine Kellnerin aus irgendeinem Grund unverschämt zu uns war.
»Du kannst nie wissen, was für einen Tag sie hinter sich hat – also nimm es nicht persönlich.«
Weiter hinten, wo die Angestellten an ihren Fenstern saßen, gab es ein Büro, dessen Tür offen stand. Dort arbeitete ein Mann im Anzug an seinem Schreibtisch. Auch er musste meine Worte gehört haben, da er sofort aufsprang und auf uns zueilte. Die Angestellte sah sich nervös nach ihm um. In diesem Moment begriff ich, dass sie nicht zum ersten Mal eine Grenze überschritten hatte. Aber diese Beobachtung war zweitrangig im Vergleich zu dem Zorn, den ich nach meinem Wutausbruch immer noch verspürte.
»Mr Russell«, sagte die Angestellte. »Wenn Sie der Dame bitte erklären könnten …«
»Das wird nicht nötig sein – da Sie für den Rest des Tages nach Hause gehen dürfen.«
»Aber ich wollte doch nur …«
»Ich habe genau gehört, was Sie gesagt haben – und man hat Sie schon einmal verwarnt.«
»Ich dachte doch bloß …«
»Gehen Sie nach Hause, Mildred. Sie werden morgen von uns hören.«
Mildred sah nicht so aus, als wollte sie von der Stelle weichen. Aber als sie begriff, dass ihr keine andere Wahl blieb, erhob sie sich schnell und ging. Sie rannte los und schien dabei in Tränen auszubrechen. Mr Russell griff nach meiner Akte auf ihrem Schreibtisch und überflog sie.
»Sie hätte wenigstens so viel Anstand besitzen können, sich zu entschuldigen, Miss Howard. Aber als ihr Vorgesetzter tue ich das hiermit. Ich spreche im Namen unserer ganzen Abteilung. Das Ganze tut mir entsetzlich leid. Ich fürchte, das ist so ihre Art – und sie wurde bereits angemahnt, ihr Verhalten zu ändern. Nun, sie wird es ändern müssen.«
Er öffnete meine Akte und sagte: »Sie bekommen in fünf Minuten Ihre Sozialversicherungsnummer.«
Er hielt tatsächlich Wort – und entschuldigte sich erneut, als er mir meinen Pass und meinen neuen Sozialversicherungsausweis gab.
»Ich hoffe, dass Sie nach dieser Erfahrung nicht glauben, dass alle unsere Beamten so unfreundlich sind«, sagte er, bevor er mir Auf Wiedersehen sagte.
Unfreundlich? Der Kanadier war an und für sich eher passiv-aggressiv – und das galt nicht nur für Bürokraten. Jeder hier war automatisch höflich. Das gehörte einfach dazu, weil es von einem erwartet wurde. Aber in dieser Höflichkeit schwang eine Gereiztheit mit: Zivilisiertheit zwischen zusammengebissenen Zähnen. Mildred war ein typisches Beispiel dafür. Sie war nicht einmal laut geworden, als sie auf einer Antwort bestanden hatte, machte mir aber auf eine spießige
Weitere Kostenlose Bücher