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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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Ruth, »dass ihn alle schrullig und ziemlich gestört finden. Der Typ Mann, den man ungern in der Nähe von Kindern sieht. Aber ich arbeite jetzt seit sechzehn Jahren mit ihm zusammen und muss sagen, dass ich ihn mag. Wir alle haben unsere Macken. Seine sind nur etwas auffälliger.«
    Verns Reich war die CD - und Notensammlung, die sich über den gesamten dritten Stock der Bibliothek erstreckte. Als er mir im Aufenthaltsraum vorgestellt wurde, reichte er mir eine schlaffe, leblose Hand. Dann starrte er auf die Spitzen seiner glänzenden Schuhe.
    »Schön, Sie kennenzulernen«, murmelte er.
    Eine Woche später versuchte ich einen fehlenden Band des Grove Dictionary of Music and Musicians aufzuspüren und musste mich in seine »Höhle«, wie Ruth seinen Arbeitsplatz nannte, vorwagen.
    Als ich auf ihn zuging, beugte er sich gerade über einen der CD -Player, auf denen man CD s vor dem Ausleihen probehören konnte. Ein großer Kopfhörer bedeckte seine Ohren. Er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich so intensiv auf die Musik, dass man den Eindruck bekommen konnte, er erlebe gerade eine Art religiöser Verzückung. Doch sobald er merkte, dass ich da war und ihn beobachtete, sprang er auf, als hätte ich ihn bei etwas Unanständigem ertappt. Er nahm den Kopfhörer ab. Aus den verrutschten Ohrenschalen hörte ich anschwellende Streicher, gefolgt von einer Klangwand von Blechbläsern – und zwar in einer ungewöhnlich hohen Lautstärke.
    »Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte er. »Ich habe nur …«
    »Was ist das für ein Stück?«
    »Bruckners Neunte. Das Scherzo.«
    »Das mit der stampfenden, vorwärtsdrängenden Motorik?«
    »Äh … ja … genau«, sagte er, aufrichtig überrascht. »Sie kennen sich mit Musik aus?«
    »Ein bisschen. Welche Version haben Sie gehört?«
    »Günter Wand mit den Berliner Philharmonikern. Die Aufnahme erschien kurz nach Wands Tod im Jahre 2002.«
    »Und?«
    »Was und?«
    »Gefällt sie Ihnen?«
    »O ja, sehr. Er begreift die Architektur der Symphonie, was … äh … ein Muss ist, wenn man Bruckner richtig interpretieren will. Außerdem hat er das Orchester als Maestro fest im Griff, wenn es um den Takt geht. Und er weigert sich …«
    Plötzlich unterbrach er sich.
    »Interessiert Sie das überhaupt?«, fragte er.
    »Ja, natürlich. Aber ich habe wohl kaum Ihr Niveau, wenn …«
    »Und wen mögen Sie, wenn es um Bruckner geht?«
    »Nun … ich besaß die Karajan-Edition. Aber seine Interpretationen hatten doch alle einen etwas sehr dicken Klangteppich – in den Höhen leicht, aber es fehlte doch eine gewisse Markigkeit.«
    Vern Byrne lächelte nervös.
    »Das war eben Karajan – alles vornehm und schön, aber keinerlei Gespür für das … äh … Metaphysische, finde ich. Obwohl das aus meinem Mund vielleicht etwas vermessen klingt.«
    »Gar nicht«, sagte ich. »Wie dem auch sei, der ganze Bruckner ist von Metaphysik durchdrungen.«
    »Eine Art katholische Metaphysik. Er war gläubiger, als ihm guttat.«
    Noch ein schüchternes Lächeln von Vern Byrne.
    »Und wenn Sie mir eine schlanke, nicht zu pathetische Version von Bruckners Neunter empfehlen müssten?«, fragte ich.
    Er hob einen Finger und ging zum Regal mit den Symphonien, fand sofort die Bruckner-Abteilung, fuhr mit dem Finger über die dichten CD -Reihen, verharrte genau bei der CD , die er suchte, zog sie aus dem Regal und gab sie mir.
    »Harnoncourt. In historisierender Spielweise, aber mit dem Klang eines modernen Orchesters. Wie Sie sicherlich wissen, war Harnoncourt ein Pionier der ›historischen Aufführungspraxis‹ und stellte wirklich innovative Dinge mit dem barocken und klassischen Repertoire an. Seine Beethoven-Symphonien waren eine absolute Offenbarung – besser als die von John Eliot Gardiner, den ich immer ein wenig eingebildet fand. Wie dem auch sei, hören Sie doch mal rein, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
    Ich nahm die CD mit nach Hause, setzte mich in meinen Sessel und hörte mir ohne Unterbrechung die ganze Symphonie an. Ich hatte Bruckners Neunte schon einmal gehört, ja erinnerte mich sogar noch an ein Konzert des Boston Symphony Orchestra unter Ozawa, das ich mit David besucht hatte und das er als »typisch Ozawa« verdammt hatte: »alles nur schöner Schein, aber ohne ein richtiges backfield .« (Mein David hatte es doch glatt geschafft, eine Bruckner-Symphonie mit Baseballvokabular zu kritisieren!) Aber bis zu diesem Moment hatte ich mir Bruckners Neunte nie richtig

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