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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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Da habe ich mir ausgemalt, er wäre eine Figur aus einem Southern-Gothic- Roman! Doch wie sich herausstellte, lag ich völlig daneben. Der Mann war Musiklehrer an der Ostküste. Seine Frau ist mit irgendeinem Typen von der kanadischen berittenen Polizei davongelaufen und hat ihn in einen hässlichen Scheidungskrieg verwickelt, an dem er pleiteging. Währenddessen wurde bei seiner einzigen, etwa zehn Jahre alten Tochter eine schwere Form von Schizophrenie festgestellt. Die Tochter ist seit Ende der 1980er-Jahre in einem Heim untergebracht. Um diese Zeit herum begann der arme Vern heftig zu trinken – und verlor dadurch seinen Job. Da blieb ihm keine andere Wahl, als wieder zu seiner verwitweten Mutter nach Calgary zu ziehen. Aber eines muss man dem Mann lassen: Als er zurückging, wurde er auf einen Schlag trocken. Er ging zu den Anonymen Alkoholikern und so. Dann suchte er sich den Job in der Bibliothek. Und damit nicht genug – vor fünf Jahren bekam er auch noch Prostatakrebs …«
    »Großer Gott.«
    »Das kann man wohl sagen! Aber so ist das eben: Sobald man an der Oberfläche eines Menschen kratzt, stößt man auf lauter dunkle Seiten. Und die hat jeder von uns. Aber seit der Krebsoperation, die erfolgreich verlief, soll er wieder angefangen haben zu trinken. Er scheint seine Sucht jedoch unter Kontrolle zu haben. Und mit dem Haus seiner Mutter besitzt er immerhin eine Immobilie. Es ist kein großes Haus, einer von den Bungalows, die man Anfang der Sechzigerjahre hochgezogen hat. Aber selbst das ist in Calgary heute 400 0000 bis 500 000 Dollar wert. Egal, das ist die Vern-Byrne-Story. Und jetzt wissen Sie auch, warum man mich hier nur ›die Stasi‹ nennt. Weil ich alles über jeden hier weiß. Aber so ist das in einer Bibliothek – man muss sich schließlich mit irgendwas beschäftigen, um die Zeit totzuschlagen. Ich bin zwar eine Klatschtante, aber keine bösartige! Die meisten Mitarbeiter mag ich tatsächlich, auch wenn ich die ganze Zeit über sie herziehe.«
    »Sogar Marlene Tucker?«, fragte ich.
    »Niemand mag Marlene Tucker«, erwiderte sie.
    Marlene Tucker war die Chefin der Einkaufsabteilung, was ihr eine gewisse Macht in unserer kleinen Welt verlieh. Und die ließ sie uns zu unserem großen Unwillen auch deutlich spüren.
    Ruth nannte sie nur »die Entscheiderin«, da Marlene ständig sagte, dass sie »zu einem geeigneten Zeitpunkt entscheiden« werde, ob sie eine bestimmte Anschaffung tatsächlich guthieße oder nicht.
    Sie war eine eher durchschnittlich aussehende Frau von Mitte vierzig und liebte jene Blümchenkleider, die seit der Pleite von Laura Ashley aus der Mode sind. Sie war stets superhöflich und superformell, wenn sie die Entscheider-Karte ausspielte – ganz nach dem Motto noblesse oblige .
    »Es ist eine großartige Bereicherung für die Bibliothek, jemanden mit Ihren Qualifikation zu unseren Mitarbeitern zählen zu dürfen«, sagte sie kurz nachdem ich dort angefangen hatte. »Vielleicht könnten Sie mich bei den Literaturankäufen beraten.«
    Einige Monate später hatte ich auf ihre Anweisung hin dreißig Überstunden angehäuft und eine lange Liste mit Lücken im Belletristikbestand erstellt. Als sie sah, dass meiner Einschätzung nach vierhundert Bücher mehr in unsere Regale gehörten, zuckte sie zusammen.
    »Vierhundert!«, rief sie, und es war eindeutig, dass ich meine Kompetenzen bei Weitem überschritten hatte.
    »Na ja, Sie haben mich gebeten …«, sagte ich.
    »Ja, aber dass Sie mir gleich mit so einer unverschämt langen Liste ankommen …«
    »Vierhundert Bücher sind eher noch bescheiden.«
    »Nicht bei so einem engen Jahresbudget.«
    »Hat die Provinzregierung unserer Bibliothek nicht weitere 400 000 Dollar für Neuanschaffungen zugestanden? Haben Sie mich nicht aus diesem Grund gebeten, eine Liste zu erstellen?«
    »Ich dachte, dass Sie die besten Voraussetzungen für diese Aufgabe mitbringen. Aber ehrlich gesagt … die gesammelten Werke von Stephen Leacock in Erstausgabe. Das muss ein Vermögen kosten.«
    »Es gibt da einen Antiquar in Victoria, der uns die gesammelten Werke für um die 9000 beschaffen könnte.«
    »Warum sollte die Calgary Central Library 9000 Dollar für eine Erstausgabe von Stephen Leacock ausgeben?«
    »Dafür gibt es zweierlei Gründe: Erstens, weil er der kanadische Mark Twain ist.«
    »Ich weiß, wer Stephen Leacock ist.«
    »Und zweitens, weil Ihre Investition vermutlich in fünf Jahren den doppelten Wert haben wird.«
    Damit erwischte ich

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