Aus der Welt
angehört. Und was entdeckte ich in dieser schmucklosen, aber doch sehr dynamischen Interpretation eines Nikolaus Harnoncourt? Dass Bruckner nicht einfach nur komponierte, sondern regelrechte Klangkathedralen errichtete, die eine Sogwirkung entfalteten und den Zuhörer in ihm vollkommen fremde Welten entführten. In dieser Symphonie fand ein gewaltiger Kampf statt. Anders als bei Mahler ging es dabei jedoch nicht um das Individuum und den erbarmungslosen Lauf des Lebens hin zum Tod. Stattdessen schien es Bruckner um etwas viel Unkörperlicheres zu gehen: um die Suche nach dem Göttlichen im wilden Karussell des Lebens, um die Erkenntnis, dass im Universum höhere, himmlische Mächte am Werk sind.
Als ich mir die Symphonie anhörte, wünschte ich mir inständig, gläubig zu sein. Könnte ich doch nur glauben, dass Emily sich in irgendeinem vagen Jenseits befände, in dem sie für immer drei Jahre alt wäre, für immer mit ihren Puppen spielte, die Lieder mitsummte, die sie so liebte, in dem sie keine Angst vor dem Alleinsein hätte, weil der Himmel ein Ort ist, wo es weder Angst noch Einsamkeit gibt; wo sich jene, die schon so früh aus dem Leben gerissen wurden, in der paradiesischsten Kinderkrippe überhaupt aufgehoben fühlen. Ein zeitloser Ort, an dem im Nu sechzig Jahre um sind, damit der Elternteil, der nie über den Verlust hinwegkam, mit dem stets vergötterten, stets betrauerten Kind wiedervereint wird. Danach leben alle glücklich und zufrieden unter Gottes schützender Hand. Natürlich leben sie nicht richtig, weil das kein Leben mehr ist, sondern das Paradies: ein Ort, wo so gut wie gar nichts mehr geschieht …
Wie können die Leute nur an einen so lächerlichen Unsinn glauben? Wie können sie andere von einem solchen Konstrukt überzeugen wollen, in der gut gemeinten, aber illusorischen Hoffnung, dass das den Schmerz irgendwie lindern kann? Wenn man eine Ahnung vom Paradies bekommen will, sollte man Bruckner oder eine Bach-Kantate hören; in den Bergen wandern gehen (vorausgesetzt, man erträgt den Anblick von so viel Schönheit); ins Flugzeug steigen und sich Chartres ansehen. Aber man soll mir bitte, bitte nicht erzählen, dass meine Tochter im Jenseits für mich beaufsichtigt wird, während ich mich hier abquäle, wohl wissend, dass ich nie über ihren Tod hinwegkommen werde.
An jenem Abend musste ich mich betrinken, um einschlafen zu können – zum ersten Mal, seit die Ärztin meine Mirtazapin-Dosis erhöht hatte, und am Morgen danach fühlte ich mich schlapp und wie benebelt. Der Blick in den Spiegel war alles andere als angenehm. Ich sah aus, als hätte ich ein Riesenbesäufnis hinter mir. In der Arbeit fragte mich Ruth: »Eine schlimme Nacht gehabt?«, woraufhin ich einfach nur nickte und damit jedes weitere Gespräch über dieses Thema im Keim erstickte. Als ich Vern die CD zurückgab, merkte ich, dass auch er über mein Aussehen verstört war, aber er sagte nichts.
»Eine gute Aufnahme«, bemerkte ich.
»Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen hat«, murmelte er und starrte auf seine Schuhe.
»Ich werde bald wiederkommen und mir etwas anderes empfehlen lassen«, sagte ich und ging.
Aber es sollte noch Wochen dauern, bis ich in seine »Höhle« zurückkehrte. Ich hatte Angst, von Verns nächstem musikalischen Vorschlag erneut so umgehauen zu werden. Auch weil Vern es spürte, wenn jemand ein offenes Ohr für seine musikwissenschaftlichen Monologe hatte, und ich mich ihm gegenüber nicht verpflichtet fühlen wollte, nett und interessiert zu sein, und …
Meine Güte, klang ich gehässig! Aber der Bruckner hatte mich ernsthaft aus der Bahn geworfen und einen neuen depressiven Schub ausgelöst. Die Schwermut war wie ein Krebs, der ständig weiterwuchert. Jedes Mal, wenn man denkt, man könnte ihn besiegen oder eindämmen, tata! , attackiert er einen anderen Teil deiner Psyche. Und er geht dabei so raffiniert und rücksichtslos vor, dass man durchaus mehrere Stunden abgelenkt sein kann. Aber dann kommt er plötzlich wieder, setzt sich fest und machte einem klar, dass diese Seelenqualen endlos sind und einen tödlichen Ausgang haben werden.
Das konnte ich natürlich nicht Vern anlasten, aber von jenem Moment an blieb ich höflich auf Distanz.
»Wissen Sie«, sagte mir Ruth eines Nachmittags, »als ich die Wahrheit über Vern Byrne erfahren habe, da habe ich mir geschworen, nie mehr Vorurteile gegen andere Leute zu haben – ein Entschluss, der keine zehn Minuten vorgehalten hat. Vern Byrne .
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