Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
Vom Netzwerk:
gut.«
    Von diesem Moment an achtete Dee strikt darauf, dieses Thema zu meiden, machte sich aber, wie es ihre Art war, stets selbst herunter und wies auf ihre Schwächen hin.
    »Bei Dee vergeht kein Tag, an dem sie sich nicht fertigmacht«, sagte Ruth Fowler. »Deshalb ist ihr Mann auch irgendwann mit ihrer besten Freundin abgehauen. Ich glaube, er hatte es satt, sich anzuhören, was für eine Versagerin sie doch wäre. Irgendwann muss er ihr recht gegeben haben – und hat sich anderweitig umgesehen. Die arme Dee. Sie ist ein Ass in dem, was sie tut, und außerdem mit die Netteste von allen. Aber was ihr Selbstbewusstsein angeht …«
    Ruth Fowler war die geistreichste Person in der Central Public Library. Sie war winzig – gerade mal ein Meter fünfzig –, trug eine runde, randlose Brille und besaß eine Vorliebe für Tweedkostüme. Manchmal erinnerte sie mich an eine Fi gur aus einer englischen Wohnzimmerkomödie der 1920er-Jahre – an die in Fischgrätmuster gewandete Lieblingstante eines Tunichtguts namens Sebastian –, die Frau, die das ganze Stück über sarkastische Weisheiten von sich gibt. Sie war die Leiterin der Publikumsausleihe, was bedeutete, dass sie hinter dem Tresen stand und als solche das Aushängeschild der Bibliothek war. Sie kümmerte sich auch um sämtliche Buchanfragen, organisierte Schulausflüge, Tage der offenen Tür, öffentliche Veranstaltungen. Sie war die ideale Person für eine Tätigkeit mit Publikumsverkehr. Gemeinsam mit Geraldine Woods war sie auch die einzige Kollegin, die ich kennenlernte, die sich rundum wohl in ihrer Haut zu fühlen schien.
    Privat hatte sie einen abgründigen Humor. Und wenn es um »das Thema« ging, das der Rest der Angestellten peinlichst mied, ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie ganz auf meiner Seite stand.
    »Sie haben inzwischen bestimmt mitbekommen, dass ich hier die Kummertante bin. Wenn Sie irgendein Problem haben oder sich über eine Kollegin ärgern, kommen Sie bitte zu mir. Ich werde dann versuchen, eine Lösung zu finden. Deshalb möchte ich ganz offen zu Ihnen sein: Mrs Woods hat alle über den Tod Ihrer Tochter informiert. Aber niemand weiß so richtig, wie er damit umgehen soll – weil es so furchtbar ist und weil die Leute nun mal Angst haben, etwas Falsches zu sagen und Sie damit zu verstören. Außerdem haben wir alle eine Heidenangst vor den Tragödien anderer, weil sie uns zeigen, wie zerbrechlich alles ist. Wie dem auch sei, ich wollte Ihnen nur sagen, dass Dee verzweifelt zu mir kam. Wegen dieses kleinen Wortwechsels, den Sie neulich darüber hatten, ob Sie vielleicht noch ein Buch schreiben.«
    »Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr nicht böse bin.«
    »Ja, das hat sie mir auch erzählt. Aber weil Dee nun mal nicht aus ihrer Haut herauskann, hat sie das Gespräch zum Anlass genommen, sich sieben Tage lang Selbstvorwürfe zu machen. Das ist allein ihr Problem – ich wollte Ihnen damit nur klarmachen, dass manche Leute in Ihrer Gegenwart Berührungsängste haben. Aber wenn Sie mal wieder einen schlimmen Tag oder eine schlimme Zeit erleben sollten … sich in einem dunklen Wald verlaufen haben und nicht mehr herausfinden – bitte rufen Sie mich an, und ich werde Ihnen Trauerurlaub gewähren, so lange Sie ihn benötigen.«
    »Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ich sie.
    »Gut, Jane …«
    »Ich weiß das sehr zu schätzen.«
    »Ich werde Sie darauf nicht mehr ansprechen.«
    »Danke.«
    Stattdessen sprach sie das Thema Vernon Byrne an. Er war Musikbibliothekar und wahrscheinlich der schweigsamste Kollege überhaupt.
    Vern war Ende fünfzig. Er war dünn wie ein Schilfrohr und trug immer das Gleiche: ein dunkelgraues Jackett, eine graue Flanellhose, ein kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickkrawatte, dazu auf Hochglanz polierte Schnürschuhe mit Lochmuster. Die karierten Hemden variierten leicht. An einem Tag war das Hemd blau kariert, am nächsten grün kariert.
    »Ich glaube, er besitzt alles in dreifacher Ausfertigung – Jackett, Hose, Schuhe und so weiter«, sagte Ruth. »Das ist typisch Vern. Er achtet nicht sehr auf Äußerlichkeiten. Aber wenn man ihn erst einmal dazu bringt, über Musik zu sprechen, ist er kaum wiederzuerkennen.«
    Vern war auch dafür bekannt, ein sturer Einzelgänger zu sein, der allein in dem Haus lebte, das er von seiner Mutter in einem Vorort geerbt hatte. Neben der klassischen Musik schien er sich für nichts zu interessieren.
    »Er lebt dermaßen isoliert, dermaßen zurückgezogen«, so

Weitere Kostenlose Bücher