Aus der Welt
hält sich für einen Medici, obwohl er nichts weiter als ein Borgia-Papst ist – und zwar einer von der provinziellen kanadischen Sorte. ›Ein feinsinniger Bibliophiler‹. Genau wie Pierre Trudeau.«
Ich lächelte schwach, was auch Ruth nicht entging.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie.
»Gut.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Warum auch nicht?«
Ich hörte die Abwehr in meiner Stimme, und im selben Moment wurde mir bewusst: Sie weiß Bescheid .
»Sie hätten heute nicht zur Arbeit kommen müssen, Jane.«
»Aber ich wollte zur Arbeit kommen. Ich muss te zur Arbeit kommen.«
»Wenn es Ihnen hilft.«
Natürlich geht es mir nicht gut. Wie konnte es mir an dem Tag, an dem sich der Unfalltod meines Kindes zum ersten Mal jährte, gut gehen?
»Wenn Sie wollen, können Sie gern nach Hause gehen«, fuhr Ruth fort. »Das wird jeder verstehen.«
»Da täuschen Sie sich, Ruth. Niemand kann das jemals verstehen. Aber das erwarte ich auch gar nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte weiterarbeiten.«
Für den Rest des Tages schloss ich mich in meinem Büro ein. Ruth hatte recht: Ich hätte gar nicht erst herkommen sollen. Ich hatte mir seit Wochen Gedanken über diesen Tag gemacht. Alle sagen, dass so ein Jahrestag entsetzlich quälend ist. Weil einem bewusst wird, dass ein Jahr vergangen ist, seit eine ganze Welt zusammenbrach. Und auch, dass die Zeit keine Wunden heilt. Also ließ ich die Tür zu meinem Büro geschlossen, starrte auf meinen Computerbildschirm und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, eine Erstausgabe von Der scharlachrote Buchstabe zu ergattern. Ich entdeckte einen Händler in Kapstadt (ausgerechnet!), der ein Exemplar besaß. Aber er wollte unverschämte 30 000 Dollar dafür haben. Ich versuchte herauszufinden, ob das der marktübliche Preis war. Ob es sich lohnte, so viel von meinem Budget für einen einzigen Band auszugeben. Ich entschied mich dagegen. Mir war klar, dass ich mich mit der Detektivarbeit nur ablenken wollte, um wenigstens für kurze Zeit der grausamen Realität zu entfliehen, die seit einem Jahr jede wache Minute meines Lebens bestimmte. Endlich war es achtzehn Uhr, und ich konnte meinen Daunenmantel, meine Mütze, meinen Schal und meine Handschuhe – lauter Schichten gegen den kanadischen Winter – anziehen und bis zum nächsten Tag von Bord gehen.
Es war ein kalter Abend – das Barometer zeigte zehn Grad minus, und es begann langsam zu schneien. In einem der Programmkinos gab es zwei Filme, die ich gerne sehen wollte, zu Fuß würde ich zwanzig Minuten dorthin brauchen. Vorher wollte ich noch kurz in einer Weinbar namens Escoba vorbeischauen, einen Teller Pasta essen und ein paar Gläser schweren Rotwein trinken. Dann wollte ich mich im Kino verkriechen, den Abend im Dunkeln verbringen und mir auf die Leinwand projizierte Schatten ansehen. Doch kaum hatte ich die Bibliothek verlassen, tat ich etwas Merkwürdiges. Ich setzte mich vor dem Haupteingang auf den Bürgersteig und blieb einfach dort sitzen. Gefühllos gegen die Kälte, den Schnee und die Passanten, die mich ansahen, als sei ich nicht ganz richtig im Kopf. Womit sie wahrscheinlich nicht unrecht hatten.
Ein Polizist kam vorbei – ein Mann mittleren Alters. Er trug eine Pelzkappe mit Ohrenschützern, die vorn ein Abzeichen der Polizei von Calgary zierte.
»Alles in Ordnung, Ma’am?«
Ich sah nicht zu ihm auf, sondern wandte mich ab und starrte in den Rinnstein.
Er ging neben mir in die Hocke.
»Ma’am, ich habe Sie etwas gefragt. Alles in Ordnung?«
»Nichts ist in Ordnung«, hörte ich mich sagen.
»Ma’am, hatten Sie einen Unfall? Sind Sie verletzt?«
»Das war letztes Jahr.«
»Was, Ma’am?«
»In der Nacht, als meine Tochter starb, habe ich mich auf die Straße gesetzt und konnte nicht eher aufstehen, bis die Polizei kam und …«
»Ma’am, würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«
Ich wandte mich ab. Ich spürte seinen Handschuh auf meiner Schulter.
»Ma’am, können Sie sich ausweisen?«
Ich weigerte mich noch immer, ihn anzusehen.
»Gut, Ma’am. Ich rufe Verstärkung, und dann werden wir Ihnen ein sicheres Plätzchen für die Nacht suchen.«
Doch als ich hörte, dass er nach seinem Funkgerät griff, kam ein Mann herbeigeeilt.
»Ich kenne sie«, sagte er dem Beamten.
Ich sah auf und erkannte Vern Byrne. Er ging neben mir in die Hocke.
»Ist was passiert, Jane?«
»Vor einem Jahr …«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er leise.
»Woher kennen Sie diese
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