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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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erschien so etwas wie Erleichterung auf seinem Gesicht. Er stellte sein Glas ab.
    »In London hatte ich einen Nervenzusammenbruch«, sagte er. »Etwa einen Monat nach meiner Ankunft. Das Royal College hatte mir diesen bedeutenden Wiener namens Zimmermann zugewiesen. Ein Tyrann, streng, nie freundlich. Ich war sein Vorzeigestudent. Das teilte er mir nach einer zweiwöchigen ›Zusammenarbeit‹, wie er es nannte, mit. Er hielt mich für so gut, dass wir sofort versuchen sollten, ›den Everest zu bezwingen‹. ›Und wenn du abstürzt, Kanadier‹, sagte er mit seinem schweren Wiener Akzent, ›bin ich der mit dem Seil, der dich wieder hochzieht. Also, lass uns den Everest besteigen!‹«
    »Was meinte er damit?«
    »Die Hammerklaviersonate von Beethoven. Die Nummer 29 – die letzte und schwierigste Sonate. Die lässt sich nicht leicht angehen. Sie ist teuflisch – und vielleicht die intensivste Erforschung der Ausdrucksmöglichkeiten des Klaviers überhaupt. Ich ging in die Bibliothek. Ich holte mir die Noten. Wir begannen, sie während unserer Stunde dreimal die Woche zu üben. Zimmermann war – wie immer – wahnsinnig kritisch. Aber das gehörte zu seiner Art des Unterrichts, und ich sprang darauf an. Ich wollte gefallen.«
    »Und gefiel ihm, was er hörte?«
    »Gegen Ende der zweiten Woche sagte er: ›In anderthalb Jahren werden Sie die Hammerklaviersonate auf dem Konzertpodium spielen. Sie werden den Everest bezwingen.‹
    Am nächsten Tag übte ich das Scherzo allein in einem der schallisolierten Räume des Royal College. Den dritten Satz, Takt drei bis acht. Plötzlich versteiften sich meine Finger. Sie erstarrten förmlich über den Tasten. Ich konnte sie nicht mehr bewegen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich weiß nicht, was in diesem Moment geschah. Mir war, als hätte jemand einen Schalter in meinem Gehirn umgelegt und mich unbeweglich gemacht. Ein anderer Student fand mich dort eine Stunde später wie gelähmt vor. Ich reagierte auf nichts. Man rief einen Krankenwagen. Ich wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Etwa vier Wochen blieb ich in diesem teilnahmslosen Zustand. Schließlich stimmte meine Mutter, die extra zu mir geflogen war, dem Versuch zu, mich mithilfe von Elektroschocks zurückzuholen. Die Elektroschocktherapie funktionierte. Ich kam zurück.«
    Er spielte erneut mit dem Whiskeyglas, so sehr sehnte er sich nach einem weiteren Drink.
    »Aber ich habe nie mehr Klavier gespielt«, sagte er schließlich. »Nein, das ist gelogen. Ich habe ständig Klavier gespielt. Denn als Mom mich nach Kanada zurückholte und ich wieder funktionierte, begann ich, Klavierunterricht zu geben … in Hamilton, Ontario.«
    »Warum in Hamilton?«
    »Ich war dort etwa ein halbes Jahr in einer psychiatrischen Klinik. Dort praktizierte ein Psychiater, der sich auf meine Art manische Depression spezialisiert hatte, außerdem hatte mein Arzt in London mal mit ihm gearbeitet. Also beschloss man, mich zu ihm zu schicken. Dort habe ich Jessica, meine Frau, kennengelernt. Sie war eine der Schwestern auf meiner Station.«
    Ich wusste wirklich nicht, was ich darauf sagen sollte, also sagte ich gar nichts. Wir schwiegen eine Weile. Vern fingerte weiterhin an seinem leeren Glas herum.
    »Ich rede zu viel«, sagte er.
    »Nein, gar nicht.«
    »Ich habe selten Besuch, deshalb …«
    »Wie kamen Jessica und Sie zusammen?«
    »Das erzähle ich Ihnen ein andermal. Für heute habe ich Sie mit meiner Lebensgeschichte genug gelangweilt.«
    »Langweilig war das wohl kaum. Außerdem brauchen Sie sich nicht bei mir zu entschuldigen, wo ich doch draußen auf der Straße, in der Bar und im Taxi diese Szene gemacht habe …«
    »Sie hatten allen Grund dazu, wenn man bedenkt, dass es heute ein Jahr her ist.«
    Jetzt war ich an der Reihe, in mein Whiskeyglas zu starren.
    »Sie sind gut informiert«, sagte ich.
    »Die Central Public Library ist nicht sehr groß.«
    »Sie haben mich heute Abend gerettet.«
    »Mir blieb nichts anderes übrig.«
    »Trotzdem … Sie haben es getan. Sie haben es für mich getan. Und ich bin Ihnen unheimlich dankbar dafür.«
    »Ich weiß, wie das ist, wenn sich so etwas zum ersten Mal jährt. Als ich gezwungen war, meine Tochter Lois einweisen zu lassen … Das war am 18. April 1989. Und seitdem …«
    Schweigen.
    »Ihre Schizophrenie gehört zu einer Variante, die anscheinend unheilbar ist. Selbst wenn sie aus der Einrichtung, in der sie seitdem lebt, entlassen werden wollte, würde das der Staat niemals

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