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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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meine Angst, Theos Gläubiger könnten mir meine Wohnung wegnehmen, zu ignorieren. Meine beste Freundin Christy sagte mir sogar, dass sie befürchte, ich könne an einer Depression leiden, und dass ich etwas unternehmen müsse, um wieder schlafen zu können.
    Sie hatte natürlich recht. Aber ich wollte nicht wahrhaben, wie schlecht es mir ging. Ich schaffe das schon , redete ich mir ein, obwohl es offensichtlich war, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
    Am nächsten Tag … am Tag, bevor es passierte … rief mich der Betriebsarzt der New England State an. Das ist das erste Mal, dass ich das überhaupt jemandem erzähle. Anscheinend hatte ihm der Vorsitzende meiner Fakultät gesagt, dass er sich Sorgen um meine Psyche mache. Mehrere Kollegen und Studenten vermuteten, ich stünde kurz vor dem Abgrund. Der Arzt fragte mich ohne Umschweife, ob ich übertrieben ängst lich sei, an Panikattacken oder Schlaflosigkeit leide. Ich konn te alle Fragen mit Ja beantworten, weigerte mich aber, das zuzugeben. Also war ich so dumm, ihm reflexartig zu erzählen, dass ich wegen ›privater Probleme‹ etwas gestresst sei, aber selbst damit klarkäme.
    ›Nun, Ihre Studenten und Kollegen sehen das anders. Insofern scheinen Sie nicht besonders gut damit klarzukommen. Schlafmangel infolge von Stress ist die Hauptursache für Depressionen und kann sich auch negativ auf das Koordinationsvermögen auswirken, was Sie und andere gefährden kann.‹ Genau das hat er wortwörtlich gesagt: ›Was Sie und andere gefährden kann‹ . Dann erwähnte er, dass er am späten Nachmittag noch einen Termin frei hätte.
    ›Dafür müssen Sie sich wirklich nicht schämen‹, sagte er. ›Sie befinden sich offensichtlich in einem tiefen schwarzen Loch. Ich würde Ihnen da gern raushelfen, bevor Sie noch tiefer hineingeraten.‹
    Und wie lautete meine Reaktion? ›Ich melde mich, Sir, wenn ich Sie brauche.‹ Was war ich nur arrogant! Hätte ich ihn an jenem Nachmittag aufgesucht, hätte er mir ein paar starke Mittel gegeben, die mich wirklich ausgeknockt hätten. Hätte ich sie an jenem Abend eingenommen, hätte ich zum ersten Mal seit Wochen wieder acht Stunden am Stück geschlafen. Dann hätte ich schneller reagieren können, als …«
    Ich verstummte und sagte gefühlte Minuten gar nichts. Vern saß einfach nur da, vermied jeden Blickkontakt, starrte durch die Windschutzscheibe auf die unendliche schneebedeckte Prärie und die Berge im Westen, die ich nicht ansehen konnte.
    »Das wird mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen. Dass mir medizinische Hilfe angeboten wurde, die den Unfall verhindert hätte. Aber ich habe sie abgelehnt. Als ich Emily am nächsten Tag Frühstück machte, hatte ich sogar einen fünfminütigen Blackout. Meine Tochter merkte das und sagte: ›Mommy ist müde. Mommy muss ins Bett.‹
    Aber anstatt auf meine Tochter zu hören und den Tag im Bett zu verbringen – ein Rat, der ihr Leben gerettet hätte –, zog ich uns beide an und brachte Emily zum Kindergarten. Dann nickte ich im Zug ein und hätte beinahe die Haltestelle der New England State verpasst. Nachdem ich mich aus dem Zug in mein Büro geschleppt hatte, warf ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel und erkannte, wie erschöpft und totenbleich ich aussah. Also trank ich drei große Tassen Kaffee und brachte meine Vorlesungen hinter mich. Dabei fühlte ich mich die ganze Zeit wie eine schlechte Schauspielerin, die eine angebliche Englischdozentin verkörpert und versucht, möglichst gebildet und engagiert zu klingen. Ich war ein einziger Betrug, sonst nichts.
    Und in diesem Moment erkannte ich, wie deprimiert ich war. Der Betriebsarzt hatte am Nachmittag wieder Sprechstunde. Er rief an jenem Tag noch einmal an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Auch das habe ich noch niemandem erzählt, ja nicht einmal mir selbst eingestanden. Dass er noch mal angerufen und gesagt hat, ich müsste wirklich unbedingt kommen und mich von ihm untersuchen lassen.
    ›Ich muss meine Tochter jetzt vom Kindergarten abholen‹, habe ich ihm mitgeteilt. Weißt du, was er daraufhin gesagt hat? ›Nicht in Ihrem Zustand. Benachrichtigen Sie die Eltern eines Kindes, das in denselben Kindergarten geht. Sagen Sie ihnen, dass Sie verhindert sind. Bitten Sie sie, Ihre Tochter nach Hause zu bringen. Und dann kommen Sie direkt zu mir.‹
    Bin ich seinem Rat gefolgt? Nein. Ich sagte nur: ›Es geht mir gut, Doktor.‹ Dann legte ich auf, griff nach meiner Jacke und meiner Mütze,

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