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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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meinen nahm, waren sie kalt wie Eis. Ich dachte, ich würde erneut zusammenbrechen – aber in diesem Moment geschah etwas mit mir. Ich erlitt einen Schock oder so was. Aber es war noch heftiger als ein Schock. Ich erlitt eine Art Trauma, das mich in einen Strudel hineinzog und …«
    Dann kam ein tiefer, langer, um Fassung ringender Atemzug.
    »In jener Nacht wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen und in Christys Obhut gegeben. Wir kehrten in meine Wohnung zurück. Dort ging ich in Emilys Zimmer, setzte mich auf ihr Bett und …
    Nein, ich bin nicht mehr zusammengebrochen. Ein Trauma geht mit einer merkwürdigen Abgestumpftheit einher. Ich saß einfach nur da, ungefähr eine Stunde lang. Christy war bei mir und sagte nichts … ganz einfach, weil es nichts zu sagen gab. Sie zwang mich, etwas zu essen, und bestand auch darauf, dass ich die Tabletten nahm, die mir das Krankenhaus verschrieben hatte. Nachdem sie mich zu Bett gebracht hatte, schlief sie sofort auf dem Sofa ein. Bestimmt hatte meine wunderbare Freundin in den letzten beiden Tagen kein Auge zugetan.
    Aber die Tabletten wirkten nicht. Ich lag bloß in meinem Bett, starrte an die Decke und wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb, als zu sterben. Dieser Gedanke beherrschte mich die ganze Nacht – wobei mir immer wieder diese schrecklichen Bilder durch den Kopf gingen. In mir wuchs die Überzeugung, dass ich nur an den Ort des Unfalls zurückeilen müsste, um ihn zu verhindern. Dass ich die Zeit zurückdrehen, meine Tochter von dieser Totenbahre springen lassen und zu mir nach Hause holen könnte …
    Also zog ich, ohne nachzudenken, einen Mantel über meinen Schlafanzug, griff nach den Autoschlüsseln und verließ das Haus. Es war mitten in der Nacht – und ich fuhr direkt zu der Stelle in Cambridge, wo es passiert war. Ich trat auf die Bremse, stieg aus, setzte mich auf den Bürgersteig und …
    Dann kann ich mich nur noch daran erinnern, dass ich das Gefühl hatte zu fallen. In einen … Abgrund? In eine unendlich tiefe Schlucht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sehr lange dort saß. Bis ein paar Polizisten vorfuhren und versuchten, mit mir zu reden. Als ich nichts sagte, riefen sie Verstärkung und …
    Man behielt mich über Nacht zur Beobachtung in der psychiatrischen Abteilung. Dort fand man meine Telefonnummer und rief Christy an. Sie kam und erklärte alles. Laut dem Psychoklempner kommt es oft vor, dass jemand, der ›einen geliebten Menschen‹ verloren hat, an den Unfallort zurückkehrt, in der Hoffnung, dass …«
    Ich verstummte erneut.
    Dann sagte ich: »Ich werde nicht viel von der Beerdigung erzählen. Eine alte Collegefreundin ist Priesterin bei den Freien Protestanten. Sie hielt den Trauergottesdienst ab. Es kamen nicht viele Leute – ein paar Kollegen von der New England State, ein paar aus Harvard, die Nanny, einige aus dem Krankenhaus, und die Frau und die Tochter des Taxifahrers, der Emily überfahren hatte. Letztere weinten mehr als wir alle zusammen. Nach der Beerdigung … Weißt du … ich bin nicht einmal mehr ans Grab meiner Tochter gegangen. Ich konnte einfach nicht … Nach der Beerdigung übergab man Christy einen Brief von der Familie. Darin stand, wie leid es ihnen täte – ich habe ihn nie gelesen. Ich konnte nicht. Aber Christy hat mit der Frau gesprochen. Anscheinend war der Kerl – er hieß Mr Babul – dermaßen traumatisiert von dem Vorfall, dass er seinen Job aufgegeben hatte und Valium nahm. Er war unfähig, das Haus zu verlassen, unfähig, damit umzugehen.
    Aber er war zu schnell gefahren, das hatte die Polizei Christy gesagt. Außerdem hatte er bereits zwei Anzeigen wegen Geschwindigkeitsübertretung. Man wollte ihn vor Gericht bringen. Man …«
    Wieder eine Pause.
    »Währenddessen wurde nach Emilys Vater gefahndet. Aber er war unauffindbar. Die Polizei versuchte, ihn ausfindig zu machen. Mein Anwalt. Sogar einige seiner sogenannten ›Geschäftspartner‹. Er war auf der Flucht vor seinen Gläubigern. Ich hörte kein einziges Wort von ihm, kein einziges verdammtes Wort. Bis …
    Aber ich greife vor. Nach der Beerdigung sagte mir mein Fakultätsvorsitzender, dass ich so lange ›Trauerurlaub‹ nehmen könne, wie ich wollte. Wenige Tage später erschien ich wieder zur Arbeit. Alle wunderten sich, mich zu sehen – aber ich wusste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte. Ich funktionierte wie ein Roboter, alles war komplett sinnlos. Christy war nach Oregon zurückgekehrt. Ich hatte die

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