Aus der Welt
nahm den Zug zurück nach Cambridge und holte Emily ab.
Das war auch so ein unglaublicher Zufall: Normalerweise habe ich meine Tochter unter der Woche nie vom Kindergarten abgeholt, da ich bis fünf Uhr Sprechstunde habe. Aber an diesem Tag hatte mich die Nanny um einen freien Nachmittag gebeten, da sie einen Termin bei der Fußpflegerin vereinbart hatte.
Wäre Julia an jenem Tag da gewesen … hätte ich ihr nicht freigegeben …«
Ich verstummte und legte meine Hand auf den Türgriff des Wagens, wollte schon die Tür aufdrücken und in das weiße Nichts der Alberta Plains fliehen. Aber ich ertappte mich bei dem Gedanken: Und was dann? Ich muss mich dieser Geschichte stellen.
Ich redete weiter.
»›Mommy, Mommy!‹, rief Emily, als sie mich in der Tür des Kindergartens stehen sah. ›Krieg ich eine Belohnung?‹
›Natürlich, mein Schatz.‹
›Bist du müde, Mommy?‹
›Mach dir deswegen keine Sorgen.‹
Ich half ihr beim Mantelanziehen und führte sie zur Tür.
›Ich glaube, da ist ein Coffeeshop, in dem es tolle Eisbecher gibt‹, sagte ich. ›Aber erst musst du etwas Anständiges essen. Einen Hamburger zum Beispiel.‹
›Sind Hamburger gesund?‹
›Gesünder als Eisbecher.‹
Plötzlich gab es vor uns einen Tumult. Eine ältere Frau – fett, dick geschminkt, eine dämliche Zigarette im Mundwinkel – führte ihren Terrier aus. Die Leine war gerissen, und der Terrier rannte auf uns zu. Die Frau schrie seinen Namen. Und dann …
Der Polizei sagte ich später, Emily hätte sich mit weit aufgerissenen Augen von mir losgerissen, um ihm nachzurennen. Ich setzte meiner Tochter nach, befahl ihr, stehen zu bleiben. Aber sie war bereits losgerannt …
Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Genau in dem Moment, in dem wir die Frau mit dem Hund sahen, hatte ich wieder einen kurzen Blackout. Er kann höchstens zwei Sekunden gedauert haben. Aber in diesen zwei Sekunden riss Emily sich los und …
Plötzlich kam ich wieder zu mir, sah meine Tochter hinter dem Hund herrennen, sah, wie ein Taxi um die Ecke raste. Der Fahrer fuhr zu schnell und bemerkte Emily erst, als …
In diesem Moment schrie ich den Namen meiner Tochter. In diesem Moment rannte ich ihr nach.
Aber das Taxi erfasste sie mit voller Wucht und schleuderte sie durch die Luft.«
Ich drückte meine Fäuste gegen die Augäpfel. Blende es aus. Blende es aus.
Irgendwann zog ich die Fäuste weg und beruhigte mich. Vern saß bedrückt und schweigend da.
»Dann schrie ich und hob meine Tochter auf, die ganz verdreht am Boden gelegen hatte. Die Frau mit dem verdammten Hund schrie auch, und der Taxifahrer – ein Armenier, wie sich herausstellte – beugte sich über uns und wiederholte immer wieder hysterisch, das sei nicht seine Schuld, er hätte sie nicht gesehen … ›Sie plötzlich da! Sie da! Sie da! Sie da! Er hörte nicht auf, diese Worte zu sagen, und auch: ›Keine Chance! Keine Chance! Ich haben keine Chance!‹
Irgendjemand rief die Polizei. Als sie kam, beschwor mich der Taxifahrer lautstark, er wolle sie retten . ›Ich sie zurückholen … Ich sie zurückholen.‹ Aber ich drückte sie weiterhin an mich, verbarg meinen Kopf an ihrem noch warmen Körper. Ihr Hals war vollkommen schlaff, sie atmete nicht mehr, reagierte in keiner Weise auf das Chaos um sie herum. Nichts …
Einer der Polizisten versuchte mich sanft dazu zu bringen, sie loszulassen. Aber ich schrie, er solle weggehen. Dann hörte ich noch mehr Sirenen. Ein Krankenwagen. Die Sanitäter schafften es irgendwie, mich von Emily zu trennen. Als ich sie loslassen musste und sah, wie ein Sanitäter sie auf Lebenszeichen untersuchte, einen Polizisten ansah und nur den Kopf schüttelte … da stürzte ich mich auf den Fahrer, schrie ihn an, nannte ihn einen Mörder und …
Zwei Polizisten waren notwendig, um mich von ihm wegzureißen. Der Taxifahrer war so verstört, dass ihn ein Sanitäter stützen musste. Und dann … dann … dann kann ich mich kaum noch an etwas erinnern. Emily wurde auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Eine Polizistin setzte sich zu mir auf den Rücksitz des Polizeiautos, mit dem wir hinterherrasten. Sie hatte ihren Arm so eng um mich gelegt, dass ich mich nicht rühren konnte. Sie bat ihren Kollegen hinterm Steuer, Verstärkung anzufordern.
Die Verstärkung bestand aus einem riesigen Pfleger. Er wartete mit einem Arzt im weißen Kittel auf mich. Der Arzt, ein junger Mann, sprach leise auf mich ein und sagte, sie würden mir
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