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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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nach meiner Adresse, sagte, er kenne das Gebäude, und schwieg die gesamte Fahrt über. Ich hätte versuchen können, Konversation zu machen. Aber die beiden Male, die ich einen verstohlenen Blick auf ihn warf, sah ich, dass während des Konzerts eine Veränderung in ihm vorgegangen war. Die Trauer in seinem Blick sprach Bände und erzählte von Dingen, die einfach unaussprechlich waren. Als wir meine Haustür erreichten, bedankte ich mich erneut für den wunderbaren Abend, beugte mich bewusst vor und küsste ihn auf die Wange. Ich sah, wie sich seine Schultern verspannten, als ihn meine Lippen streiften. Anschließend sagte er leise: »Wir sehen uns morgen«, und wartete, bis ich ausgestiegen war. Dann verschwand er in der Nacht.
    Ich ging nach oben, setzte mich noch im Mantel in meinen Sessel und dachte über das nach, was ich soeben gehört hatte. Wie dankbar ich Vern doch war, dass er mir Gelegenheit gegeben hatte, so etwas Herrliches, Brillantes und Überwältigendes zu erleben! Etwas, das es mir – wie ich erst jetzt merkte – während der Gesamtdauer von fünfundsiebzig Minuten erlaubt hatte, all meinen zerstörerischen Kummer zu vergessen.
    Aber der Moment, in dem ich darüber nachdachte, war natürlich der, in dem alles zurückkehrte. Trotzdem – Bachs lange, dunkle Nacht der Klavierseele hatte mir geholfen, mich eine Weile davon zu lösen. Angesichts der vielen Kinder, die Bach selbst verloren hatte, fragte ich mich unwillkürlich, ob er nicht auch Trost in der kontrapunktischen Unermesslichkeit dieser Aria und ihrer Variationen gefunden hatte.
    Am nächsten Morgen wurde alles von Emily überschattet. Ich versuchte mich mit meiner Schwermut abzufinden, sagte mir, dass ich nun mal damit leben müsse. Das Problem war nur, dass ich nicht damit leben konnte. Meine Tochter war für immer verloren. Mit dieser furchtbaren Realität wollte ich mich einfach nicht abfinden – und doch war es eine endgültige, unabänderliche Tatsache. Da wären wir wieder. Was kann man dagegen tun? Nichts, außer einen weiteren Tag überstehen.
    Ich machte in meiner Wohnung Kaffee, während ich die Morgensendung auf CBC Radio 2 hörte. Wie immer versprühte der Moderator eine Mischung aus Gelehrsamkeit und guter Laune. Um neun gab es eine kurze Nachrichtenpause. Die Nachricht des Tages war das Verschwinden eines Mädchens aus der Präriestadt Townsend, einhundert Kilometer südlich von Calgary. Anscheinend hatte die dreizehnjährige Ivy MacIntyre nach der Schule einen Arzttermin gehabt. Ihr zeitweise arbeitsloser Vater hätte sie beim Zahnarzt in der Nähe der Schule abholen sollen, aber dort war das Mädchen nie angekommen. Wie sich herausstellte, war sie an jenem Tag nicht einmal zum Unterricht erschienen, obwohl ihr Vater sie noch morgens verabschiedet hatte – die Mutter hatte bereits Frühschicht im ortsansässigen Supermarkt. Laut dem CBC -Reporter ging die Polizei jedem Hinweis nach und musste leider davon ausgehen, dass es sich bei dem Verschwinden um eine Entführung oder Schlimmeres handelte.
    Ich stellte das Radio aus. Ich konnte – oder wollte – nichts mehr von der Sache hören.
    Als ich am späten Vormittag für eine Kaffeepause in den Aufenthaltsraum kam, unterhielten sich Babs und Mrs Woods höchst angeregt über das Verschwinden von Ivy MacIntyre.
    »Wie ich hörte, ist der Vater ein notorischer Säufer. Er soll schon zweimal auf Ivy und ihre Mutter losgegangen sein«, sagte Mrs Woods.
    »Und dann gibt es da noch einen älteren Sohn, den achtzehnjährigen Michael. Er arbeitet auf den Ölfeldern oben in Fort McMurray. Seiner Aussage nach fürchtete sich seine Schwester immer davor, allein mit dem Vater zurückzubleiben …«
    Die Tür fiel hinter mir zu, und als sie sahen, wer da war, wechselten sie sofort das Thema. Als ich das Gebäude später verlassen wollte, um mir etwas zum Mittagessen zu holen, begegnete ich zufällig Vern.
    »Danke noch mal für diesen wunderbaren Abend«, sagte ich.
    Seine Reaktion war ein zaghaftes Nicken, dann lief er einfach an mir vorbei.
    In den nächsten Tagen beherrschte Ivy MacIntyre sämtliche Medien.
    Obwohl der Fall alle Kollegen beschäftigte – und Ivys merkwürdiges Verschwinden von sämtlichen Zeitungen ausgeschlachtet wurde –, war ich fest entschlossen, die Sache nicht an mich heranzulassen.
    Eine Woche verging. Vern schickte mir eine Mail und fragte, ob er eine neue Ausgabe des Grove Dictionary of Music und Musicians erwerben könne – alle neunundzwanzig Bände

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