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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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und fuhren dann zum Fluss. Danach überquerten wir die Louise Bridge und nahmen die Autobahn, die zu den nördlichen Vororten und darüber hinaus führt. In dieser Zeit sprachen wir kein Wort – die Stille wurde von einem Chorkonzert auf CBC 2 gefüllt. Der Moderator spielte Ausschnitte aus einer Neueinspielung von Händels Esther – genauer gesagt: eine der bekannteren Nummern aus dem Oratorium nämlich: My Heart is Inditing .
    »Ich habe erst neulich erfahren, dass Händel von einem Stück Racines zu dem Oratorium inspiriert wurde«, sagte Vern.
    Auch ein Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen …
    »Das wusste ich noch gar nicht«, sagte ich.
    Wieder nichts als Schweigen.
    »Wohin fahren wir genau?«, fragte ich.
    »Es soll eine Überraschung werden.«
    Schweigen. Dann, etwa drei Minuten später, fragte er: »Ein schönes Wochenende gehabt?«
    »Nichts Besonderes. Und du?«
    »Ich habe einen Artikel für Gramophone geschrieben.«
    »Worüber?«
    »Über eine Neueinspielung von Händels Esther .«
    »Du meinst die, die wir gerade hören?«
    »Genau.«
    »Aha.«
    Wieder Schweigen. Wir nahmen die Auffahrt zur 16th Avenue NW in Richtung Banff.
    »Wir verlassen doch nicht das Stadtgebiet, oder?«, fragte ich.
    »Du wirst schon sehen.«
    Noch mehr Schweigen. Wir fuhren an einer Tankstelle vorbei, dann an einer Kunstschneepiste namens Canada Ski Park.
    »Hier fand das Skispringen statt, als Calgary 1988 die Olympischen Winterspiele ausrichtete.«
    »Verstehe.«
    »Jetzt kannst du dort acht Monate im Jahr Ski fahren … vorausgesetzt, du fährst überhaupt Ski.«
    »Ich fahre nicht Ski.«
    »Ich auch nicht.«
    Wir fuhren weiter. Innerhalb kürzester Zeit löste sich die Stadt buchstäblich in Luft auf, und wir befanden uns in der offenen Prärie – in einer riesigen, schier endlosen Ebene, die sich bis jenseits des Horizonts erstreckte.
    Plötzlich spürte ich ein Frösteln, begleitet von wachsender Panik – die gleiche Panik, die mich auf der Busfahrt von Montana nach Norden überfallen hatte. Damals hatte ich den Fehler gemacht, die großartige Landschaft zu betrachten, und das Gefühl gehabt, gleich durchzudrehen.
    Ich ignorierte die vor uns liegende ozeanische Weite und knetete heftig meine Hände, als versuchte ich, meine Finger zu erwürgen. Ich spürte, wie mein Atem unregelmäßiger ging. Auch Vern merkte, dass etwas nicht stimmte.
    »Alles in Ordnung, Jane?«
    »Vern, wo fahren wir hin, verdammt noch mal?«
    »An einen schönen Ort. Einen wirklich schönen Ort. Aber wenn du dich aus irgendeinem Grund unwohl fühlst …«
    Ich sah auf und erblickte die Rockies, die sich mittlerweile am Horizont abzeichneten. Ihre raue Schönheit mit den gezackten, schneebedeckten Gipfeln, die in der grellen Wintersonne funkelten, war mir einfach unerträglich. Ich stieß einen gedämpften Schrei aus, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Vern fuhr sofort rechts ran. Kaum waren wir zum Stehen gekommen, riss ich die Tür auf und rannte los. Ich kam nicht weit – die Kälte machte meinem Wahn, davonrennen zu können, ein rasches Ende. Nach vielleicht zwanzig Metern ließ ich mich mit den Knien voran in den dicken Schnee fallen. Ich legte meine behandschuhten Hände vor die Augen und wünschte mir, ich könnte die Welt ausblenden.
    Dann spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern. Vern beließ sie eine Weile dort und beruhigte mich. Wortlos ließ er sie seitlich an meinen Armen hinuntergleiten und half mir auf, um mich wieder zum Auto zu bringen.
    »Ich fahre dich nach Hause«, sagte er beinahe flüsternd.
    »Ich möchte nicht nach Hause. Ich möchte …«
    Ich verstummte. Der Motor brummte, das Heizungsgebläse stieß warme Luft aus. Ich ließ den Kopf hängen.
    »… reden«, sage ich und beendete endlich meinen Satz. »Ich möchte reden. Darüber, was an jenem Tag passiert ist.«
    Ich starrte zu Vern hoch. Er schwieg, nickte mir nur zu.
    Und ich begann zu reden.

7
    »Ich hatte eine Mordswut. Ich hatte mehrere Nächte nicht geschlafen, weil Theo, mein angeblicher ›Partner‹, kurz davorstand, mich zu ruinieren. ›Partner‹! Ich hasse dieses Wort, es ist dermaßen politisch korrekt! Aber wie soll ich ihn sonst nennen? Außerdem war er mit diesem Freak von einer Frau auf und davon. Mehrere ihrer Gläubiger verfolgten mich, um ihr Geld zurückzubekommen. Ich erhielt täglich Drohungen. Ich sprach mit Anwälten – und Theo war wie vom Erdboden verschwunden. Mein Anwalt riet mir zwar, die Drohanrufe und

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