Aus der Welt
sagen.«
»Du hast leicht reden.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich mache mir noch heute Vorwürfe wegen meiner Tochter. Obwohl …«
Schweigen. Er legte seine Hand auf meine. Ich zog sie weg.
»Was willst du hier mit mir?«, sagte ich. »Stehst du vielleicht auf Frauen, die einen Knacks haben? Macht dich das an? Oder glaubst du im Ernst, wir könnten irgendeine Zukunft haben?«
Ich hasste mich für diese Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte. Sofort drehte ich mich zu ihm und sagte: »Es tut mir leid. Ich bin so blöd, so …«
Ich verbarg meinen Kopf an seiner Schulter, konnte aber nicht weinen. Er legte den Arm um mich, aber ich spürte, dass er nervös war, Angst vor meiner Reaktion hatte.
»Weißt du«, sagte er leise, »selbst wenn ich es wollte – es würde sowieso nicht klappen. Der Prostatakrebs hat dieses Kapitel beendet. Nicht, dass es noch existiert hätte, nachdem mich meine Frau verlassen hat.«
»Was willst du also?«, fragte ich.
Er löste sich von mir. Seine Augen waren rot und wässrig. Er zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und fuhr sich damit über das Gesicht. Er umklammerte das Steuer und starrte hinaus in das Schneetreiben.
»Ich will einen Whiskey«, sagte er schließlich.
8
Wir gingen in eine Kneipe an einer Einkaufsmeile. Wie alle Einkaufsmeilen war auch diese trostlos. Dass sie von mehreren Zentimetern Neuschnee bedeckt war, machte sie nicht weniger hässlich. Die Kneipe war auch nicht viel besser: ein Hockey-Treff, der nach Bierpisse und Männerschweiß stank. Wenigstens lief keine Heavy-Metal-Musik – dafür gab es in der Nähe des Tresens einen dieser riesigen Fernseher, der gerade ein Spiel der Calgary Flames übertrug. Auf dem Bildschirm hatten zwei Kerle aus gegnerischen Mannschaften ihre Helme abgesetzt und gingen wie wild aufeinander los. Die Leute hinter dem Tresen schienen das Spektakel zu genießen und feuerten den Pitbull im Flames-Trikot an.
»Hallo, Vern«, sagte der Barkeeper, als wir hereinkamen. Der Barkeeper hieß Tommy. Er sah aus wie ein Biker, und sein T-Shirt ließ einen riesigen Bizeps sehen. Darauf prangte das Tattoo eines kanadischen Ahornblatts, das sich um ein Kruzifix rankte.
»Hübsch hier«, sagte ich und folgte Vern in eine Nische, wo ich ihm gegenüber Platz nahm.
»Von wegen!«, meinte Vern. »Aber es ist nicht weit von mir, sodass ich von hier aus nach Hause wanken kann.«
Diese Bemerkung verlangte förmlich nach der Frage: Bringen dich schon zwei Drinks ins Wanken … oder kommst du her, um deine selbst gesetzte Grenze zu überschreiten? Die Antwort erfuhr ich in den nächsten drei Stunden, in denen Vern mich zunehmend unter den Tisch trank.
Nachdem er mir im Wagen gesagt hatte, dass er einen Whiskey wolle, hatte er mich schweigend hierhergebracht, ohne noch ein einziges Wort über das zu verlieren, was ich ihm erzählt hatte. Er legte eine CD ein, ein Klaviertrio von Schumann – grüblerische, ausdrucksstarke, winterliche Musik. Wir bahnten uns einen Weg durch den Schnee, zurück in die Stadt. Ich war dankbar, dass er nichts zu meinem Redeschwall sagte. Heute glauben viele, dass es hilft, »sich auszusprechen«. Aber das stimmt nicht: Sich aussprechen heißt nur, den Schmerz zu artikulieren. Man muss etwas loswerden, weil man es einfach loswerden muss. Aber es ist nicht so, als würgte man eine giftige Mahlzeit hoch. Man fühlt sich nicht plötzlich gereinigt, befreit – bereit, munter von vorn zu beginnen. Man spürt nur: Jetzt habe ich es ausgesprochen … und nichts hat sich verändert.
Insofern war ich froh, dass er auf jegliches Psychogeschwafel verzichtete. Vielleicht hatte Vern selbst zu hören bekommen, dass er nicht schuld an der Schizophrenie seiner Tochter wäre, und er hatte das auch nicht geglaubt. Vielleicht hatte ihn meine Geschichte auch so entsetzt, dass er sich einfach nur betrinken wollte.
Was auch immer der Grund dafür war – Vern begann richtig zu trinken. Wir saßen noch keine zehn Minuten da, und schon waren zwei Fingerbreit verschwunden. Sie schienen ihn etwas zu stabilisieren. Dann folgte jede halbe Stunde ein doppelter Whiskey. Ich tat es ihm nach, Drink für Drink. Es war eine interessante Erfahrung, sich so richtig zu besaufen. Obwohl ich mich früher oft in den Schlaf getrunken hatte, war das hier etwas völlig anderes. Den Anspielungen des Barkeepers Tommy – »Es ist also wieder mal einer von diesen Nachmittagen, Vern … Wie wär’s, wenn du mir die Autoschlüssel gibst, damit ich sie
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