Aus der Welt
Morgen mit genau denselben Beschwerden krankgemeldet.«
Verkaterte verstehen sich eben blind.
Ich blieb noch eine Stunde im Bett liegen und dachte nach. Als ich mir den Wahnsinn dieses Besäufnisses wieder vor Augen führte, wurde mir klar, dass Vern nicht der Einzige gewesen war, der sich gestern hatte betrinken müssen.
Aber die Gedanken an dieses Wettsaufen und seine toxischen Konsequenzen wurden schon bald von etwas Wichtigerem überschattet: von dem Gedanken an George MacIntyre; von dem gehetzten Ausdruck in seinen Augen, als man ihn mit all den Blitzlichtern und Fragen konfrontiert hatte; von der Resignation, die ihm ins Gesicht geschrieben stand – so als wäre diese neue Hölle nur ein Klacks im Vergleich zum Verschwinden seiner Tochter. Ein Schuldiger hätte sich dadurch verraten, dass er sich wie Dostojewskis Raskolnikow selbst belastet hätte. Irgendetwas hätte ihn verraten. Aber MacIntyre war einfach nur am Boden zerstört und sah aus wie ein Mann, der jegliche Hoffnung aufgegeben und für den jetzt der denkbar schlimmste kafkaeske Albtraum begonnen hatte: der, des Mordes an der eigenen Tochter bezichtigt zu werden, wo er doch wusste, dass er vollkommen unschuldig war.
Von dem bisschen, das ich über den Fall gehört hatte, wusste ich jedoch, dass MacIntyre schon in der Vergangenheit als gewalttätig aufgefallen war. Wenn es stimmte, dass er seine Frau geschlagen hatte und von seinem Sohn für gefährlich gehalten wurde … Nun, dann hatte man ihn natürlich sofort für den Hauptverdächtigen gehalten, auch wenn man das vor dem Verfahren noch nicht öffentlich verkünden durfte.
Und wie Tommy, der Barkeeper, bemerkte, war da ja noch die Sache mit der blutbefleckten Unterwäsche der Tochter, die man in seiner Werkstatt gefunden hatte. Warum sollte er einen dermaßen belastenden Gegenstand ausgerechnet dort verstecken? Wenn er hinter dem Verschwinden steckte, würde er doch bestimmt alles tun, um jegliches Beweismaterial zu vernichten? Selbst wenn er erwischt und schuldig gesprochen werden wollte, würde er nie auf die Idee kommen, so etwas Banales wie ein Höschen an so einem offensichtlichen Ort zu verstecken. Wer sich mehr oder weniger selbst anzeigt – vor allem im Fall einer Kindstötung –, denkt sich etwas aus, was direkt zur Leiche führt. Das wäre ein echtes Schuldeingeständnis und außerdem eines, das sich schnell überprüfen lässt.
Aber die Polizei – die den Fall schnellstmöglich aufklären musste – stürzte sich auf das blutige Höschen als Beweis für MacIntyres eindeutige Schuld (vorausgesetzt, das Kneipengerücht über dieses Beweisstück entsprach überhaupt der Wahrheit). Aber solange es Laborergebnisse gab, die bestätigten, dass es sich um Ivys Blut handelte …
Weißt du eigentlich, was du da tust? Spielst du jetzt die Hobbydetektivin, indem du Dostojewski zitierst und dir in deinem verkaterten Zustand einbildest, einen stadtbekannten Soziopathen verteidigen zu müssen? Wenn das mal keine Übersprungshandlung ist …
Aber sosehr ich mich auch bemühte, den Fall zu vergessen – ich kam den ganzen Tag nicht mehr davon los. Nachdem ich mich endlich aus dem Bett und zur Strafe unter eine kalte Dusche geschleppt hatte, gefolgt von weiteren zweistündigen Selbstbestrafungsaktionen im Fitnesscenter, fühlte ich mich wie magisch vom Kiosk angezogen. Ich kaufte den Globe and Mail , den Calgary Herald und das Edmonton Journal , um zu sehen, was dort über George MacIntyres Verhaftung berichtet wurde. Ich nahm meine Zeitungen mit ins Café Beano und begann zu lesen. Der Herald brachte eine ganze Seite über den »Fall Ivy MacIntyre« und schrieb, es sei jetzt schon das dritte Mal in sechs Jahren, dass eine Halbwüchsige aus Townsend und Umgebung vermisst werde. In allen vorherigen Fällen seien die Kinder spurlos verschwunden.
Der Herald schrieb auch, dass George MacIntyre »der Polizei bekannt«sei – schon wieder dieser Satz. Außer dass er einen Job als Fernfahrer gehabt hatte, erfuhr ich kaum etwas: Denn wie ich sah, ging die kanadische Presse ganz anders mit einem Mordverdächtigen um als die amerikanische. Vergangene Gesetzesverstöße durften nicht erwähnt werden, auch keine belastenden Aussagen von Nachbarn oder Arbeitskollegen. Vor einem Prozess war es gesetzlich verboten, irgendetwas anderes als die reinen Fakten zu veröffentlichen.
Aber das Edmonton Journal brachte ein Zitat des »Familienpastors der MacIntyres«, Larry Coursen, der sagte, Ivy sei »einer von
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