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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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den Spiegel zu schauen. Die Augen eines Menschen, der ebenfalls sein Kind verloren hatte und jetzt einen nie gekannten Schmerz erlebte. Und genau in diesem Moment wusste ich: Dieser Mann hat seine Tochter nicht umgebracht.
    MacIntyre wurde zu einem wartenden Polizeiauto begleitet, während ihn ein Dutzend Reporter und Paparazzi mit Fragen bombardierten und klickend ihre Auslöser betätigten.
    »Als George MacIntyre abgeführt wurde«, so der CBC -Reporter, »soll er gerufen haben: ›Ich würde meiner Tochter nie etwas zuleide tun. Niemals.‹ Seit dem Verschwinden seines Kindes hat er sich mehrmals mit dramatischen Aufrufen an die Öffentlichkeit gewandt, ihm sein Kind wohlbehalten zurückzugeben. Der zweiundvierzigjährige MacIntyre ist der Polizei bereits bekannt. Seine Frau Brenda ist sehr aktiv in der hiesigen Pfingstgemeinde. Ihr Pastor, Reverend Larry Coursen …«
    Der Reporter schaltete zu Larry Coursen. Er war blond, hatte ein markantes Kinn und blendend weiße Zähne, trug eine hellbraune Lederjacke mit Stehkragen und triefte nur so vor scheinheiliger Anteilnahme.
    »Das ist ein extrem trauriger Tag für Brenda MacIntyre, ja für alle Mitglieder unserer Gemeinde und auch für George MacIntyre. Die Sache ist wirklich tragisch. Wir beten inbrünstig dafür, dass Ivy wohlbehalten zu uns zurückkehrt – möge das Licht unseres Herrn Jesus Christus auf sie und George MacIntyre scheinen.«
    Ich zog mein Glas zu mir heran und trank den Rest Whiskey aus.
    »Lobet den Herrn«, flüsterte ich leise. Vern hörte mich und schenkte mir ein kleines Lächeln.
    Jetzt erschien ein Polizei-Officer namens Floyd McKay und erklärte, George MacIntyre sei für weitere Ermittlungen nach Calgary überstellt worden.
    »Weißt du, was mir heute Morgen einer der Polizisten erzählt hat, die hier Stammgast sind?«, sagte Tommy, der Barmann, zu einem Gast auf einem Barhocker, der sein Bier aus der Flasche trank. »Dass man ›blutige Unterwäsche‹ unter einem Holzstapel in MacIntyres Werkstatt gefunden hat. Und das hat auch zu seiner Verhaftung geführt.«
    »Wenn ich Polizist wäre, würde ich ihn kastrieren«, sagte der andere.
    In dem Moment hörte ich mich sagen: »Er war es nicht.«
    Tommy, der Barkeeper, starrte mich an.
    »Habe ich Sie richtig verstanden?«
    Ich erwiderte seinen Blick.
    »Jawohl«, sagte ich. »Er war es nicht.«
    »Und woher wollen Sie das wissen, verdammt noch mal?«
    »Ich weiß es einfach.«
    »Obwohl man das in der Werkstatt versteckte blutbefleckte Höschen seiner Tochter gefunden hat?«
    »Das ist nur ein Gerücht. Ich sage Ihnen, der Mann ist unschuldig.«
    »Und ich sage Ihnen, dass er so schuldig ist, wie man nur sein kann. Und Vern … ich kenne deine Freundin zwar nicht, glaube aber, dass der Whiskey, den ihr da beide trinkt, ihren Verstand ein wenig getrübt hat.«
    »Glauben Sie doch, was Sie wollen«, flüsterte ich leise. Vern hob die Hand und warf mir einen so flehentlichen Blick zu, dass ich anscheinend verdammt noch mal lieber den Mund halten sollte.
    »Tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe, Sir«, rief ich dem Barkeeper zu.
    »He, Sie können froh sein, dass Vern hier Stammgast ist. Ansonsten hätte ich Sie längst auf die Straße gesetzt.«
    Zwei Whiskeys später kamen die Taxis. Ich murmelte Vern einen Abschiedsgruß zu und ließ mich auf den Rücksitz des Taxis sinken. Der Fahrer wollte wissen, ob mir schlecht werden würde, doch ich versicherte ihm, dass ich meinen Mageninhalt bei mir behalten würde, bis wir meine Wohnung erreicht hätten. Und er versicherte mir, mich in die minus neunzehn Grad kalte Nacht hinauszuwerfen, falls ich nicht Wort halten würde.
    Danach kann ich mich nicht mehr an viel erinnern, nur noch, dass ich dem Fahrer beim Aussteigen 20 Dollar gab und irgendwie die Treppe hochkam. Ich schloss meine Haustür auf und ließ mich kopfüber aufs Bett plumpsen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es elf Uhr. Ich fühlte mich, als hätte man meinen Kopf mit einem sehr scharfen Messer ausgehöhlt. Ich sah auf die Uhr und stöhnte. Ich war noch nie zu spät zur Arbeit gekommen – und obwohl ich gern gegangen wäre, wusste ich, dass mein Kater einfach zu groß dafür war. Also griff ich zu meinem Handy und rief Mrs Woods an. Ich entschuldigte mich ausgiebig dafür, dass ich krank war. Ich behauptete, mir irgendeinen Magen-Darm-Virus eingefangen und kaum ein Auge zugetan zu haben.
    »Da scheint ja was umzugehen«, sagte Mrs Woods, »denn Vern Byrne hat sich heute

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