Aus der Welt
für dich aufbewahre?« – konnte ich entnehmen, dass sich mein Arbeitskollege nicht zum ersten Mal hier besoff. Als wir ungefähr bei unserer fünften Runde angelangt waren, sprach ich ihn sogar direkt darauf an:
»Wenn du zu den Anonymen Alkoholikern gehst – wie erklärst du dann so einen Nachmittag?«
»Ganz einfach: Wenn ich alle zwei Monate das Bedürfnis habe, mich zu betrinken, komme ich hierher und betrinke mich. Tommy weiß, wann es wieder so weit ist. Und auch, was er tun muss, wenn ich nicht mehr weiß, was ich tue. Es gab Zeiten, da war ich jeden Tag blau. Jetzt besaufe ich mich kontrolliert.«
In den drei Stunden in der Kneipe führte hauptsächlich Vern das Wort. Der Whiskey löste ihm offensichtlich die Zunge, und er sprach über alle möglichen Themen, angefangen von der Mahler-Interpretation einer bestimmten Aufnahme, bis hin zur heimlichen Verzweiflung, die ihn während der Bibliotheksarbeit überkam. Er erwähnte sogar kurz eine Frau, in die er auf dem Royal College of Music verliebt gewesen war.
»Sie hieß Veronique, eine Cellistin aus Lyon. Sie war brillant und in meinen Augen auf eine herbe Art schön. Ich habe sie einmal bei der Cellosonate Nr. 2 von Mendelssohn begleitet und ihren Bemerkungen entnommen, dass sie durchaus sehr an mir interessiert war. Ich war wirklich total verknallt in sie. Aber … ich war noch nie gut in so was.«
»Du meinst, im Verführen?«
»Ich meine, im Normalsein. «
»Wer ist schon normal?«
»Oh, es gibt Leute, die ohne größere Probleme durchs Leben gehen. Leute, die wissen, wie man glücklich wird, das Beste aus sich macht. Und die Gutes zulassen können.«
»Aber die meisten gehen nicht durchs Leben, als wäre alles nur Friede, Freude, Eierkuchen. Es ist immer chaotisch …«
»Vor allem im Angesicht der einen großen Macht, der niemand etwas entgegensetzen kann: Im Angesicht des Todes.«
»Macht er dir Angst, der Tod?«
»Er wird kommen, so viel steht fest. Verstörend finde ich nur die Vorstellung, dass ich eines Tages nicht mehr existieren werde, dass meine ganze Geschichte mit mir verschwinden wird. Kein ›Ich‹ mehr. Wie ist das möglich?«
»Kein ›Ich‹ mehr«, wiederholte ich den Satz. »Noch vor einem Jahr hielt ich das für eine Alternative.«
»Und jetzt?«
»Jetzt … muss ich mit mir leben und allem, was dazugehört.«
Das war das einzige Mal, dass wir auf unsere vorherigen Worte zu sprechen kamen. Wir orderten weitere Drinks und setzten unsere Unterhaltung fort. Ich spürte, wie der Whiskey Besitz von mir ergriff – aber ich genoss die betäubende Wirkung des Alkohols. Ich musste mich aus demselben Bedürfnis heraus betrinken, aus dem ich auch über »diesen Tag« hatte reden müssen: Es musste einfach sein. Es war eine bloße Notwendigkeit.
Da wir stetig, aber nicht sturzbachartig weitertranken, redete niemand von uns zusammenhangloses Zeug, bis es schließlich fünf Uhr nachmittags war … An diesem Punkt bestellte Tommy zwei Taxis (wollte er sicherstellen, dass wir nicht nebeneinander aufwachten?) und half uns aus der Kneipe in die wartenden Wagen. Etwa zwei Stunden zuvor machte ich jedoch eine flüchtige Beobachtung, die mein Leben in den nächsten Monaten bestimmen sollte. Wie so viele Begebenheiten, die eine Veränderung auslösen, geschah auch diese nur, weil ich in einem bestimmten Moment in eine bestimmte Richtung sah: Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Fernseher hinter dem Tresen und …
»Na, das wurde ja auch höchste Zeit, dass sie diesen verlogenen Mistkerl festnehmen.«
Das kam von Tommy, dem Barkeeper, der zum Fernseher hochstarrte. Auf dem Bildschirm wurde George MacIntyre – der Vater von Ivy, der vermissten Dreizehnjährig en – aus einem einfachen Wohnhaus geführt. Er war Anfang vierzig – übergewichtig, hatte schütteres Haar und ein dünnes Bärtchen. Er trug ein schmutziges T-Shirt und Schlafanzughosen – die Polizei hatte offensichtlich beschlossen, ihn zu verhaften, als er noch im Bett lag. Obwohl ich seine ungepflegte Erscheinung in allen Einzelheiten wahrnahm – und mir auch nicht entging, dass er genauso aussah, wie man sich einen Kinderschänder gemeinhin vorstellt –, waren es seine Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten. Sie waren ganz rot vom vielen Weinen. Doch was ich darin sah, waren weder Angst noch Schuld noch Verdrängung, sondern Seelenqualen. Die gleichen Seelenqualen, die ich nach Emilys Tod oft in meinen eigenen Augen gesehen hatte, wenn ich den Fehler beging, in
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