Aus der Welt
nicht als Vergehen gelte. So gesehen könne ich die Frage nach Vorstrafen bei einem Visumantrag eindeutig mit Nein beantworten.
Dann las sie mir die »Sondermaßnahme« vor, erklärte, dass ich die Polizeiarbeit sowie laufende Ermittlungen behindert hätte und hiermit verwarnt würde. Jede weitere Aktion, die ein Einschreiten der Polizei erfordere, würde mit einer Strafanzeige gegen mich enden. Außerdem müsse ich freiwillig zu einer psychotherapeutischen Beratung beim Gesundheitsamt von Alberta gehen, mich allen dort geforderten medizinischen und psychologischen Untersuchungen unterziehen und der Therapie zustimmen, die das Amt mir empfahl.
Letzteres gefiel mir ganz und gar nicht.
»Und wenn es heißt, dass ich eine Elektroschocktherapie brauche?«, sagte ich.
»Hier im Kleingedruckten steht eine Klausel, die Sie berechtigt, von Ihnen als schädlich erachtete Therapien auszuschließen.«
»Ich nehme an, im Kleingedruckten steht auch eine Klausel, die zulässt, dass meine Einwände übergangen werden.«
»Meiner Erfahrung nach will die Provinz nur nicht, dass Geisteskranke frei herumlaufen. Sie jedoch sind nur ein Ärgernis – jemand, dem man mit weitaus konventionelleren Mitteln helfen kann. Ich kann Ihnen nur raten, Miss Howard, der Sondermaßnahme zuzustimmen, so lange zum Psychiater zu gehen, wie man das für richtig hält, die verabreichten Tabletten zu nehmen und die Sache hinter sich zu bringen. Ich habe Ihre Akte gelesen. Sie sind kein Freak und mit Sicherheit nicht dumm. Also gönnen Sie sich eine Pause – und befolgen Sie die Sondermaßnahme. MacIntyre ist tot. Der Fall ist jetzt abgeschlossen. Blicken Sie in die Zukunft.«
Aber noch am selben Nachmittag saß ich wieder im Internetcafé und las mir sämtliche Online-Nachrichten durch. Ich las jeden verdammten Kommentar, der zu MacIntyres Selbstmord verfasst worden war. Mittendrin klingelte mein Handy. Eine Frau stellte sich als Dr. Maeve Colins vor und sagte, sie sei die mit meinem Fall betraute Psychiaterin. Ob ich sie morgen um fünfzehn Uhr aufsuchen könne.
»Kein Problem«, sagte ich und notierte mir ihre Praxisadresse in Kensington.
Kaum dass ich den Anruf beendet hatte, konzentrierte ich mich wieder auf die Website von CBC , die rund um die Uhr Nachrichten brachte. Gerade wurde Reverend Larry Coursen interviewt. Sein Gesichtsausdruck ließ sich am besten mit dem Wort frömmlerisch-gequält beschreiben. Man sah, wie er vor seiner Kirche stand und zu einer Reportermeute sprach.
»Das ist eine schlimme Zeit für Brenda und ihren geliebten Sohn Michael. Erst der Verlust Ivys, und jetzt auch noch der von George. Ich kann nur hoffen, dass George sich jetzt an einem besseren Ort befindet, dass die Ängste und Qualen seines irdischen Lebens dem ewigen Frieden gewichen sind. Im Namen der Familie möchte ich Sie bitten, ihre Privatsphäre im Moment eines solchen Verlusts zu akzeptieren. Brenda wird in den kommenden Tagen eine offizielle Presseerklärung abgeben. Heute jedoch möchte sie Sie nur von ihrem unendlichen Leid und von ihrer festen Überzeugung in Kenntnis setzen, dass George bei Jesus ist.«
Einer der Reporter fragte: »Glauben Sie, dass man Ivy MacIntyre jetzt noch lebend finden wird, Reverend?«
»So tragisch das auch ist, müssen wir doch annehmen, dass sie tot ist. Wenn sie noch quicklebendig wäre, hätte sich George MacIntyre nicht das Leben nehmen müssen.«
Moment mal, du hast mir gesagt …
Ich begann wie eine Wilde in meinen Unterlagen zu wühlen, bis ich die Aufzeichnungen zu meinem »Interview« mit ihm gefunden hatte.
»Sie ist nicht tot«, hatte er zu mir gesagt.
Und ich: »Wie können Sie sich da so sicher sein?«
Und er: »Ich weiß es einfach.«
Du warst dir doch damals so sicher?
Und jetzt hast du deine Meinung geändert, weil MacIntyre sich umgebracht hat?
Ein anderer Reporter stieß eine neue Frage hervor.
»Die Polizei hat nicht viel über den Fall verlauten lassen. Aber angenommen, es ist so, wie Sie sagen, und wir müssen davon ausgehen, dass Ivy tot ist – glauben Sie, dass MacIntyre einen Hinweis hinterlassen hat, der zu ihrer Leiche führen könnte?«
In diesem Moment verzogen sich Coursens Lippen unwillkürlich zu einem Lächeln. Er fing sich jedoch wieder, bevor es richtig sichtbar wurde. Aber ich sah es. Vielleicht weil ich dank des Internets die Möglichkeit hatte, die Szene immer wieder aufs Neue abzuspielen. Seine Mundwinkel begannen, sich nach oben zu krümmen – ein eindeutiger Hinweis
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