Aus der Welt
stand in Großbuchstaben auf der Titelseite, gefolgt von: »Nach der Anklage wegen Mordes an seiner Tochter schrieb er in seinem Abschiedsbrief: ›Ich kann nicht mehr.‹« Alle nachmittäglichen Radiosendungen läuteten ihre Nachrichten damit ein. Und alle Beiträge gipfelten in der krassen Behauptung, dass sich MacIntyre erhängt hätte, um sich der Justiz zu entziehen.
Auf CBC Radio brachten sie ein Interview mit einer Psychologin. Ihr zufolge könne ein Täter die Schuld an dem von ihm verübten furchtbaren Verbrechen wochen-, monate-, ja sogar jahrelang verdrängen. Doch dann käme der Moment der Wahrheit: »Und mit ihm der ungeheure Drang, Hand an sich zu legen und sich im Grunde selbst zu richten. Ist die Realität erst einmal bis zum Soziopathen durchgesickert, führt das entweder zum Selbstmord oder zu einer Art Reue. Bei George MacIntyre war die Konfrontation mit dem furchtbaren Verbrechen, das er begangen hatte, wohl mehr, als er ertragen konnte.«
Die Polizei gab eine Pressekonferenz, auf der die Fakten rund um MacIntyres Selbstmord offiziell verkündet wurden. Man habe ihn nicht als selbstmordgefährdet eingestuft, weil bei seiner Verhaftung nichts darauf hingewiesen hätte. Im Gegenteil, schließlich habe er steif und fest seine Unschuld beteuert. »Trotzdem haben wir uns an sämtliche Vorsichtsmaßnahmen und Richtlinien gehalten, um seine Unversehrtheit zu gewährleisten. Leider hat das nicht genügt, und wir übernehmen die volle Verantwortung.«
So selten es auch vorkommt, dass eine Behörde tatsächlich Verantwortung für die von ihr angerichtete Katastrophe übernimmt (und genau das war George MacIntyres Selbstmord) – eines begriff ich nach wie vor nicht: Wie hatte man nur übersehen können, was ich so deutlich wahrnahm, als ich ihn kurz im Fernsehen erblickt hatte, nämlich den gehetzten Blick eines Mannes, der sich im freien Fall befand. Man hatte ihn beschuldigt, sein eigenes Kind getötet zu haben, verdammt noch mal! Wie soll man so etwas bloß verkraften? Und warum hatte man ihn, verdammt noch mal, nicht vor sich selbst geschützt? (Wahrscheinlich deshalb, weil man insgeheim fest davon überzeugt war, dass er dieses Schicksal verdient hatte.)
Ich selbst war völlig schockiert. George MacIntyre war meine Mission gewesen, meine Daseinsberechtigung. Und jetzt, wo ich nicht mehr für ihn kämpfen konnte …
Ach, hör dir doch mal zu: Du klingst wirklich völlig lächerlich und gestört. Du und deine verrückte Theorie. Die Beweise waren zwar nicht wasserdicht, belasteten aber eindeutig ihn. Du musst das akzeptieren – und die Sache sofort vergessen.
Etwas Ähnliches sagte mir auch Officer Sheila Rivers, eine toughe Polizistin, die für Sergeant Clark einsprang, um eine offizielle Verwarnung gegen mich auszusprechen.
Geraldine Woods hatte Anweisung erhalten, dass ich mich trotzdem auf dem Polizeirevier melden sollte. Man würde mich in einer halben Stunde erwarten – oder aber eine Fahndung nach mir rausgeben.
Zehn Minuten später war ich auf dem Revier. Die Uniformierte am Empfang schien mich bereits erwartet zu haben. Sie drückte auf einen Knopf und sprach in ein Telefon. Danach sagte sie: »Officer Rivers wird gleich hier sein.«
Officer Sheila Rivers war Ende dreißig, groß und kantig. Sie hatte kurze schwarze Haare und sprach wie ein Schnellfeuergewehr. Sie trug einen schlichten schwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Sie hätte auch als Geschäftsfrau durchgehen können, wenn sich unter ihrem Jackett nicht deutlich Halfter samt Pistole abgezeichnet hätten.
»Jane Howard?«
Ich nickte und gab ihr die Hand.
»Wir erledigen das unten«, sagte sie und zeigte auf eine Tür gegenüber dem Empfangsbereich. Sie tippte einen Code ein. Dann befanden wir uns in einem Raum, der genauso aussah wie der, in dem mich Sergeant Clark befragt hatte.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte sie. »Wie Sie sicherlich gehört haben, geht es hier heute ziemlich chaotisch zu.«
Sie öffnete meine Akte und erklärte, dass mir in dieser »Angelegenheit« ein Rechtsbeistand zustünde. Ich sagte, das sei nicht nötig – woraufhin sie mir ein Dokument überreichte, mit dessen Unterzeichnung ich auf genanntes Recht verzichtete. Dann verkündete sie in offiziellem Ton, dass man beschlossen hätte, eine sogenannte »Sondermaßnahme« gegen mich einzuleiten. Sie erklärte, dass diese Maßnahme rechtlich nicht als Strafe behandelt würde. Dass mein Verhalten zwar »aktenkundig« würde, aber eben
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