Aus der Welt
verteidigte, dem die Mehrheit das Recht auf jede Verteidigung absprach. Aber da es sich ja um höfliche Kanadier handelte, würden sie mir niemals laut widersprechen. (Tätowierte Barkeeper gehorchten anderen Regeln als die Latte-Trinker im Café Beano.)
Als ich endlich fertig war, saß Vern einfach nur da und schwieg. Er wirkte schockiert, war aber gleichzeitig zu peinlich berührt, um das zuzugeben.
»Jetzt komm schon, Vern«, sagte ich immer noch ganz high von meinem Perry-Mason-Monolog. »Sag mir, dass ich spinne, Mist rede oder einfach nur …«
»Jane, bitte «, flüsterte er und berührte kurz meine Hand. »Es gibt überhaupt keinen Grund …«
»Was?«, rief ich laut. »Auszusprechen, was niemand zugeben will? Nämlich dass ein Mann angeklagt und vorverurteilt wurde, ohne dass man sich die anderen Beweise auch nur angeschaut hat?«
Plötzlich herrschte im ganzen Café Totenstille. Vern dreh te sich um und sah, dass alle Augen auf uns gerichtet waren.
»Ich muss los«, sagte er. Dann bedankte er sich für den Kaffee und ging.
Aber ich lief ihm nach.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte ich, als er versuchte, in seinen Wagen zu steigen. »War ich dir peinlich?«
Er schloss die Wagentür und drehte sich zu mir um.
»Ich sage dir jetzt dasselbe, was mir mein Sponsor von den Anonymen Alkoholikern nach einem meiner Besäufnisse gesagt hat: Du kannst weiterhin so tun, als ob so ein Verhalten normal ist, und endgültig abstürzen. Oder aber du hörst damit auf und bringst dich in Sicherheit.«
Das war das erste Mal, dass Vern so strenge Töne anschlug – und man sah ihm eindeutig an, wie unangenehm es ihm war, derart deutlich zu werden. Zumal meine Reaktion wirklich peinlich war.
»Aber im Gegensatz zu dir, Vern, bin ich nicht alkoholsüchtig.«
Nachdem ich ihm diese Bemerkung an den Kopf geworfen hatte, drehte ich mich um, ging hoch in meine Wohnung, ließ mich in meinen Sessel fallen und dachte: Du bist süchtig. Aber nicht nach Alkohol, sondern nach Aggressionen. Nach Aggressionen, die auf Kummer zurückzuführen sind. Nach Aggressionen, die nicht nachlassen und die ständig ein Ventil suchen und …
Doch diese Selbstvorwürfe wurden schon bald von einem neuen Gedanken überlagert: die Zeitungen! Also ging ich wieder in den Zeitschriftenladen beim Café Beano und kaufte die Globe and Mail , die National Post , den Calgary Herald , den Edmonton Telegraph … sprich: jede kanadische Zeitung, die es dort gab, einschließlich der Vancouver Sun .
»Wollen Sie die wirklich alle haben?«, fragte der Typ hinter der Kasse.
»Wieso, haben Sie was dagegen?«, fragte ich.
»Nein, es ist schließlich Ihr Geld«, erwiderte er.
Zurück in meiner Wohnung, sah ich alle durch in der Hoffnung, auf einen Artikel zu stoßen, der George MacIntyres Schuld nur ein winziges bisschen anzweifelte. Aber alle Artikel teilten die Auffassung der Polizei und gaben ausschließlich die Fakten wieder. Während ich die Globe and Mail durchblätterte, fiel mir eine Kolumne von Charlotte Plainfield auf – es ging um einen Inzestprozess in Thunder Bay. Sie war eine berühmte kanadische Journalistin und dafür bekannt, sich mit Fällen von Kindesmissbrauch und anderen widerlichen Verbrechen zu beschäftigen. Ohne groß nachzudenken, schnitt ich Plainfields Artikel aus, griff nach meiner Mappe mit den MacIntyre-Unterlagen und eilte zurück ins Internetcafé.
»Sie schon wieder?«, grunzte der Typ, bevor er mir einen Computer zuwies. Dort verfasste ich in den nächsten zwei Stunden einen langen Brief an Plainfield. Darin verteidigte ich George MacIntyre, zitierte aus meinen Interviews und berichtete von meinen Zweifeln, die mir aufgrund der widersprüchlichen Zeugenaussagen gekommen waren. Ich drängte sie, die Prostituierte in Regina aufzustöbern, die die Anklage gegen George MacIntyre zurückgezogen hatte, und sich den Fall erneut vorzunehmen. Zum Glück hatte die Globe and Mail ihre E-Mail-Adresse unter dem Artikel abgedruckt, sodass ich sie nicht im Internet recherchieren musste. Als ich auf Drucken klickte, um eine Kopie für meine Unterlagen zu haben, sah ich, dass ich über zehn Seiten verfasst hatte.
Am Montag kehrte ich an die Arbeit zurück. Mein erster Gang führte zu Geraldine Woods, bei der ich mich persönlich entschuldigen wollte. Aber als ich ihr Büro betrat, sah ich gleich, dass irgendetwas nicht stimmte … beziehungsweise, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.
»Gut, dass Sie gleich zu mir
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