Aus der Welt
der anderen Seite standen fünf Worte:
Es tut mir leid.
David
Ich ging in mein Apartment und setzte mich an meinen kleinen Esstisch. Ich legte die Karte darauf und starrte die fünf Worte lange an. Mir wurde schwindelig. Seine letzte Nachricht. Aber was wollte er mir damit sagen? Tut mir leid … ich werde mich umbringen? Tut mir leid, dass ich so ein Chaos angerichtet habe? Tut mir leid, dass ich bei dem Buch nicht auf dich gehört habe? Tut mir leid, dass ich abgehauen bin? Oder …
Nichts Eindeutiges. Keine Antworten. Nur noch mehr Unklarheit.
Es tut mir leid.
Nachdem ich der Welt da draußen die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, brach ich erneut zusammen und weinte wie verrückt. Aber diesmal waren meine Tränen nicht nur eine Reaktion auf den Verlust – ein Verlust, von dem niemand erfahren durfte. Diesmal mischte sich auch aufrichtige Wut darunter. Ich war wütend auf David – nicht nur, weil er tot war, sondern auch, weil er versucht hatte, sein Gewissen mit dieser lächerlichen Postkarte zu beruhigen. Mit einer Nachricht, die einer ohnehin unklaren Situation noch eine rätselhaftere Wendung gab.
Es tut mir leid.
In den darauffolgenden Tagen ließ meine Wut ein wenig nach und wich einer Traurigkeit, die nur schwer abzuschütteln war. Ich erhielt einen Anruf von Mrs Cathcart. Mit einer leisen, tröstlichen Stimme erzählte sie mir, dass alle Fakultätsmitglieder bestürzt über den Tod von Professor Henry seien (eine Lüge), dass es Protest gegen den Journalisten der New York Times hagele, der den Vorwurf des Plagiats in die Welt gesetzt hatte (noch eine Lüge), und dass sie in dieser schweren Zeit sehr an mich gedacht hätte, »da ich weiß, wie nahe Sie dem Professor standen«.
»Das stimmt«, sagte ich und versuchte, gefasst zu klingen. »Er war ein großartiger Doktorvater und ein guter Freund.«
Dabei beließ ich es, denn wenn man zu sehr protestiert, macht man sich erst recht verdächtig.
»Sie sollten wissen, dass die Polizei von Maine das Ganze als Unfall behandelt«, sagte sie. »Nur falls Sie sich gefragt haben, ob …«
»Ich habe mich nichts gefragt«, sagte ich, wunderte mich aber: Hatte man beschlossen, der Aussage des Lastwagenfahrers Gus keinen Glauben zu schenken? Vielleicht hatte man Gus auch zu einer anderen Aussage gedrängt – »Das Rad fuhr in das Schlagloch, und dann weiß ich nur noch, dass er mir direkt vor den Kühler fuhr« –, um die Angelegenheit zu vereinfachen, sämtliche Unklarheiten auszuräumen und alle unangenehmen Fragen im Keim zu ersticken. Wie ich dem Uniklatsch später entnahm, führte die Behandlung von Davids Tod als Unfall dazu, dass seiner Frau die Lebensversicherung ausbezahlt wurde. Vielleicht blieb die Polizei bei dem Unfall-Szenario, weil sie das Leid des Lastwagenfahrers und das von Davids Angehörigen nicht zusätzlich verschlimmern wollte.
Aber ich kannte die Wahrheit. Und die Wahrheit lautete: Es gibt keine Wahrheit. Genau wie in T. S. Eliots Gedicht Die hohlen Männer: »Zwischen Regung und Tat fällt der Schatten.«
Es tut mir leid.
Das glaube ich dir gerne, David. Aber das beantwortet meine Fragen nicht, verjagt die Schatten nicht.
Die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt. Er wurde feuerbestattet, und man verstreute seine Asche in der Nähe seines Ferienhauses im Meer. Als ich das erfuhr – von Mrs Cathcart natürlich –, musste ich unweigerlich daran denken, was David einmal über die Vergänglichkeit gesagt hatte.
»Wir bemühen uns so sehr, etwas zu hinterlassen. Wir reden uns ein, dass unser Tun wichtig ist, dass etwas davon zurückbleiben wird. Aber in Wahrheit sind wir bloß Durchreisende. Nur weniges wird uns überleben. Und wenn wir nicht mehr sind, leben wir nur noch in den Erinnerungen unserer Mitmenschen fort. Sind sie erst mal verflogen … Deshalb möchte ich, dass meine Asche im Meer verstreut wird, wenn ich einmal tot bin. Dann endet alles damit, dass ich forttreibe.«
Alle Fakultätsmitglieder waren sehr besorgt um mich. Der Vorsitzende, Professor Hawthorden, rief mich höchstpersönlich an und bat mich zu einem Gespräch. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Doch wie sich herausstellte, war er ein Muster an Takt. Er nannte Davids Tod einen »tragischen Unfall« und meinte, die Plagiatsvorwürfe seien nichts weiter als »eine Vorverurteilung durch einen durchgeknallten Kritiker«. Außerdem wolle er mir noch sagen, dass David stets mit Hochachtung von mir gesprochen habe. Und dass er sich gern
Weitere Kostenlose Bücher