Aus der Welt
bei Dreiser ein echtes zolaeskes Leitmotiv gebe und wo progressives politisches Gedankengut in Upton Sinclairs The Jungle eingeflossen sei. Ein Professor reagierte sehr gereizt darauf, dass ich in jedem analysierten Roman einen sozioökonomischen Subtext finden wollte (was ich locker parieren konnte), ein anderer hinterfragte den literarischen Stil meiner wissenschaftlichen Arbeit … und als die Verteidigung endlich vorbei war, wusste ich nicht, ob ich überzeugend gewesen war.
Innerhalb einer Woche erhielt ich ein offizielles Schreiben von Hawthorden. Darin stand, dass meine Doktorarbeit angenommen worden sei und ich in Harvard den Doktortitel der Philosophie erworben hätte. Darunter hatte er noch zwei handschriftliche Zeilen hinzugefügt:
Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
Es folgten die Initialen Hawthordens.
War das eine höflich verbrämte Aufforderung, zu verschwinden? Hatte er meine Doktorarbeit deshalb so schnell durchgewinkt, damit ich Harvard möglichst bald den Rücken kehrte? Oder war das auch nur wieder eine mögliche Interpretation dieser vierzehn Worte? Musste wirklich alles mit so vielen widersprüchlichen Bedeutungen aufgeladen sein?
Wenige Tage nachdem ich Hawthordens Brief erhalten hatte, kontaktierte mich auch Harvards Stellenvermittlung und bat mich zu einem Gespräch. Die Frau, die mich empfing – eine typische Karrierefrau um die vierzig namens Miss Steele –, erzählte mir von einer Dozentenstelle an der University of Wisconsin.
»Es handelt sich um eine Festanstellung – und die Wisconsin ist eine sehr angesehene Universität.«
»Ich gehe zum Vorstellungsgespräch.«
Zwei Tage später flog ich nach Madison. Der Fakultätsvorsitzende – ein ziemlich mitgenommen aussehender, erschöpft wirkender Mann namens Wilson – holte mich vom Flughafen ab und klagte mir auf der Fahrt zur Universität sein Leid: dass die Stelle frei geworden sei, weil ein Dozent ein übertriebenes Interesse für eine Studentin entwickelt habe und deshalb entlassen worden sei. Und dass er auch noch eine andere Stelle in Mediävistik besetzen müsse. Die Frau, die sie die letzten zwanzig Jahre bekleidet hätte, sei Alkoholikerin, zuletzt sei sie auf der Intensivstation gelandet …
»Gut … was soll ich Ihnen sonst noch sagen?«, meinte Wilson. »Es handelt sich um eine ganz normale chaotische Englischfakultät.«
Als ich am selben Nachmittag in irgendeinem Verwaltungsgebäude am Konferenztisch saß und von Wilson und vier anderen Fakultätsmitgliedern befragt wurde, bekam ich die Trostlosigkeit meiner zukünftigen Kollegen genau vor Augen geführt – ihre Erschöpfung und Gereiztheit, die Art, wie sie sich gegenseitig fertigmachten, während sie mich in den Himmel lobten, um herauszufinden, für wie schlau ich mich hielt und ob ich eine Bedrohung für sie wäre oder nicht. Dann fragten sie, was ich von dem Skandal hielte, der einen ihrer Kollegen den Kopf gekostet hatte.
Vorsicht, Vorsicht , dachte ich und sagte: »Da ich mit den genauen Einzelheiten des Falles nicht vertraut bin …«
»Aber was halten Sie im Allgemeinen von Liebesbeziehungen zwischen Studenten und Fakultätsmitgliedern?«, wollte eine Frau wissen.
Weiß sie, dass ich und …?
»Sie sind sicher nicht gutzuheißen«, sagte ich und hielt ihrem Blick stand. Das Thema wurde kein zweites Mal angesprochen.
Noch am selben Abend flog ich nach Boston zurück und musste an etwas denken, das David einmal gesagt hatte: »Falls du jemals überlegen solltest, eine Dozentenstelle anzunehmen, darfst du Folgendes nie vergessen: Die Leute an der Uni sind deshalb so unausstehlich, weil sie so miserabel bezahlt werden.«
David. Mein armer, guter David.
Allein die Vorstellung, ausgerechnet jene Welt mit offenen Armen zu begrüßen, die für seinen Tod mitverantwortlich war …
Deshalb lehnte ich ab, als drei Tage später der Anruf aus Wisconsin kam und mir der Fakultätsvorsitzende die Stelle anbot.
»Aber warum denn?«, fragte er aufrichtig bestürzt.
»Ich habe beschlossen, Geld zu verdienen«, sagte ich. »Gutes Geld.«
TEIL ZWEI
1
Geld. Ich habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht und seine Existenz bisher mehr oder weniger ignoriert. Bis ich begann, richtiges Geld zu verdienen. Wie ich heute weiß, ist der Umgang mit Geld – wie man es kontrolliert, aber auch, wie man davon kontrolliert wird (denn das geschieht ganz unweigerlich) – etwas, das man von klein auf lernt. Als Heranwachsende
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