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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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meiner Dissertation annehmen würde, wenn mir sein Angebot »zusagte«.
    Warum wollte ausgerechnet der Fakultätsvorsitzende mein Doktorvater sein, zumal sein Fachgebiet die frühe amerikanische Literatur war? Versuchte er so, sämtliche Gerüchte über meine Beziehung zu David zum Verstummen zu bringen? Wollte er bewusst nett zu mir sein? Ich wusste es nicht. Wenn Professor Hawthorden die Angelegenheit gütlich regeln wollte, ohne ihr genauer auf den Grund zu gehen, hatte ich nichts dagegen. Denn Dingen nicht auf den Grund zu gehen, hat bekanntlich auch Vorteile.
    Ich stürzte mich in die Arbeit, schrieb täglich zwei Seiten an meiner Dissertation, sechs Tage die Woche. Ich verhielt mich unauffällig und traf Hawthorden zweimal im Monat zu einer einstündigen Besprechung. Ansonsten hielt ich mich in der Bibliothek oder in meinem Apartment auf. Ich tauchte die nächsten neun Monate mehr oder weniger unter. Bis auf Christy hatte mein Leben in Harvard aus David bestanden. Und da es keinen David mehr gab …
    Aber die Einsamkeit gefiel mir. Ja, ich brauchte sie sogar, ich brauchte die Zeit, um zu trauern, vermutlich. Aber auch, um mich wieder zu fangen und Davids Tod in eine Gedächtnisregion zu verdrängen, die ich bereits mit dem Schild »Betreten verboten« markiert hatte. Obwohl ich im Stillen um ihn trauerte, musste ich die brutale Realität seines Todes akzeptieren. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, mir meine Trauer nicht anmerken zu lassen.
    In Harvard und in der Presse fand ein öffentliches Händeringen darüber statt, ob David zu Unrecht von seinen Fakultätskollegen verurteilt worden sei. Immerhin enthüllte die Studentenzeitung die Namen der Dreckskerle, die seinen Kopf gefordert hatten. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? David war tot und wurde nicht mehr lebendig. Drei Monate nach seinem »Unfall« gab es einen Gedenkgottesdienst in der College-Kapelle. Natürlich ging ich hin. Als danach alle aus der Kirche strömten und Polly viele Hände schütteln musste, stand ich an der Kirchentür und beobachtete die Szene. Genau in diesem Moment sah sich Polly um, und unsere Blicke trafen sich. Sie sah mich kühl, aber unverwandt an, darauf folgte ein kurzes wiedererkennendes Nicken. Anschließend wandte sie sich wieder der Gruppe von Trauergästen zu, die sich um sie geschart hatte. Dieser Blick sollte mich noch lange verfolgen. Wollte sie mir damit sagen, dass sie genau wusste, wer ich war? Aber warum ließ sie einem so eiskalten Blick dann eine Geste folgen, die unsere Beziehung – und unseren gemeinsamen Verlust – zu bestätigen schien? Aber vielleicht interpretierte ich einfach viel zu viel in diese kurze Begegnung hinein. Vielleicht war dieser kühle Blick nur der Blick einer Frau, die versuchte, sich in der Öffentlichkeit zu beherrschen. Vielleicht bedeutete das Nicken nichts weiter als ein schlichtes »Hallo … wer immer Sie auch sind«.
    Man kann nie wissen, welche Wahrheit sich hinter dem Unausgesprochenen verbirgt. Eine Geste kann jede Bedeutung annehmen, die man ihr zuweist. Genau wie ich niemals wissen werde, wie sich der Unfall tatsächlich zugetragen hat. Nur wenn ich die Ungewissheit akzeptiere, kann ich mich schützen.
    Auch das hat mich Davids Tod gelehrt: Wenn man nicht gesteht, bleibt den anderen nur ein Verdacht … und kein Beweis. Was verborgen bleibt, bleibt verborgen. Das tröstete mich etwas – nicht nur, weil es mir den Schutz gab, den ich brauchte, um die folgenden Monate in Harvard zu überstehen, sondern auch, weil ich auf diese Weise meine ganze Wut und Traurigkeit verdrängen, meine inneren Dämonen kontrollieren konnte. Also tauchte ich ab. Ich schrieb an meiner Arbeit und gönnte mir sonst kaum eine Ablenkung. Professor Hawthorden – der jedes Kapitel sofort »druckfrisch« las – schien mit meinen Fortschritten zufrieden zu sein. Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, staunte er, dass ich es geschafft hatte, sie ein halbes Jahr vor dem Abgabetermin fertigzustellen.
    »Ich war gerade in einer unheimlich … konzentrierten Phase«, sagte ich.
    Normalerweise liegen zwischen der Abgabe einer Doktorarbeit und ihrer Verteidigung vier Monate. Aber Hawthorden, der die Prozedur anscheinend beschleunigen wollte, beraumte die Verteidigung noch vor der Sommerpause an. Wie sich herausstellte, sollten mich nur noch drei weitere Fakultätsmitglieder zu Die höllische Dualität: Gehorsam und Auflehnung in der amerikanischen Literatur prüfen. Man fragte mich, ob es

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