Aus der Welt
ein. Ich rief ein Taxi. Ich fuhr zu Avis und holte den für mich reservierten Mietwagen ab. Ich verließ Cambridge, fuhr nach Norden zur Route 1, nahm die Interstate 95 und düste nach Maine.
Warum ich das tat? Keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich den Ort aufsuchen musste, wo er gestorben war.
Gegen eins war ich in Bath. Ich hielt an einer Tankstelle und ließ mir sagen, wie ich zum Popham Beach kam. Die östlich vom Meer verlaufende Straße führte durch die weite Landschaft Neuenglands – grüne, sanfte Hügel, schindelgedeckte Häuser, alte rote Scheunen, ein Meeresarm. Ich sog jedes Detail in mich auf, jedes besondere Merkmal dieser Straße, auf der er mit dem Fahrrad in den Tod gefahren war. Ich erreichte Popham etwa eine halbe Stunde, nachdem ich in Bath aufgebrochen war. Der Parkplatz war leer. Ich war die einzige Strandbesucherin an diesem trostlosen Maitag, der Himmel hatte die Farbe schmutziger Kreide. Ich nahm einen kleinen Pfad durch die Dünen zum Meer. Alles, was mir David über Popham erzählt hatte – und er sprach oft davon –, stimmte genau.
»Drei Meilen ununterbrochener, unberührter, meist leerer Sandstrand, von dem aus man den schönsten Meerblick von ganz Neuengland hat. Jedes Mal, wenn ich in Maine und sozusagen aus der Welt gefallen bin, spaziere ich den Popham Beach entlang und starre hinaus auf die unendliche Weite des Atlantiks … Irgendwie habe ich dann immer das Gefühl, dass es noch mehr gibt als mein kleines, unbedeutendes Leben und dass es immer einen Ausweg gibt.«
Ich stand am Strand, sah auf das Meer hinaus und hörte Davids Worte. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob das Leben vor zwei Tagen so unerträglich und trostlos für ihn gewesen war, dass ihm der Anblick Pophams den Rest gab. Was, wenn der Strand für ihn nicht nur unerträglich schön gewesen war, sondern es auch versäumt hatte, seine magische Wirkung zu entfalten? Was, wenn seine raue, majestätische Erhabenheit nicht tröstlich gewirkt, sondern ihn nur in seiner Überzeugung bestärkt hatte, vernichtet worden zu sein? Was, wenn er an einem solchen Tiefpunkt angelangt war – so sehr am Boden lag –, dass er die Schönheit des Meeres einfach nicht mehr ertrug? Was, wenn er die Augen vor der rhythmischen Brandung, der schimmernden Wasseroberfläche geschlossen und gedacht hatte: Wenn ich nicht mal mehr das ertragen kann …
Ich selbst schaffte es nicht, aufs Wasser hinauszusehen und mir zu überlegen, was David wohl in der letzten Stunde seines Lebens durch den Kopf gegangen war. Also ging ich zum Wagen zurück, fuhr vom Parkplatz, bog rechts ab und folgte der Straße zu einer ausgeschilderten Ferienhaussiedlung. Kurz davor wurde die Straße einspurig; die Polizei hatte die Unfallstelle abgesperrt. Ich hielt an und stieg aus. Mit einem Kloß im Hals starrte ich auf die schwarz asphaltierte Straße. Es waren starke Bremsspuren zu sehen, die breiten Reifenabdrücke ließen darauf schließen, dass er von einem ziemlich großen Fahrzeug überfahren worden war. Ich ging zum Absperrband und sah zu Boden. An dieser Stelle bestand die Böschung aus Lehm und schmutzigem Gras. Ich sah aufmerksamer hin und entdeckte dort, wo der Asphalt in Lehm überging, getrocknete Blutspuren. Es gab einen großen Fleck, der in einer langen Reihe kleiner Tropfen auslief.
Ich schloss die Augen, konnte einfach nicht länger hinschauen. Aber du bist doch extra hergekommen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ich riss mich zusammen, stellte mich auf die Straßenmitte und bemerkte, wie schmal der Asphalt an dieser Stelle war. Ich prüfte seine Oberfläche, ging hinter die Polizeiabsperrung, sah nach unten und hoffte auf irgendeinen Hinweis …
Ja! Dort, unter meinen Füßen, befand sich ein Schlagloch. Mit seinem Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern war es zwar nicht sehr groß, aber es lag etwa dreieinhalb Meter vor den Bremsspuren. Ich rekonstruierte den Unfallhergang. David verließ den Strand und sauste mit seinem Fahrrad die Straße entlang. Er sah, wie der Laster auf ihn zukam. Zur Sicherheit wich er an den Straßenrand aus. Aber dann geriet sein Vorderrad in das Schlagloch, er verlor die Kontrolle über das Fahrrad, gelangte auf die Gegenfahrbahn und …
Das war es. Genau so musste es passiert sein. Ein Unfall. Ein dummer Zufall – eine Verkettung tragischer Unstände, mehr nicht.
Jetzt konnte ich mir einreden, dass es kein Selbstmord war. Dass David einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.
Ich ging
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