Aus der Welt
in jenem Winter schneite es viel in Boston –, verschwand das Fenster, und mir blieben nur die Neonröhren als hauptsächliche Lichtquelle.
»Ich fürchte, das schwarze Loch bekommt das jeweils neueste Fakultätsmitglied«, sagte Daniel Sanders, nachdem er mir die Stelle angeboten hatte.
Es handelte sich um einen Anglistik-Lehrstuhl, der frei geworden war, nachdem die vorherige Dozentin – eine Spezialistin für amerikanische Literatur zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts namens Deborah Holder – an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war, nur drei Monate nach der Diagnose.
»Debbie wurde von allen Fakultätsmitgliedern aufrichtig geschätzt«, erzählte mir Sanders während unseres anschließenden Mittagessens. »Sie war erst einunddreißig, verheiratet und hatte einen Sohn. Bei den Studenten war sie unheimlich beliebt, außerdem stand ihr eine wirklich große Uni-Karriere bevor. Sie war hochintelligent und noch dazu sehr nett. Es ist nicht sehr einfühlsam, Ihnen das alles zu erzählen, aber ich finde, Sie sollten wissen, in welche Fußstapfen Sie da treten, bevor Sie über den Flurfunk erfahren, wie beliebt sie war.«
»Ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen.«
»Das ist meine Art. Deshalb werde ich auch sonst ganz ehrlich mit Ihnen sein. Wie Sie wissen, handelt es sich um einen Zeitvertrag mit Aussicht auf Festanstellung. Aber man wir Ihnen keine Festanstellung geben, wenn Sie nicht innerhalb von vier Jahren ein Buch veröffentlicht haben, das gut rezensiert wurde. Sie sollten also so bald wie möglich irgendwo ein Buch unterbringen. Darüber hinaus muss ich Ihnen sagen, dass alle an unserer Fakultät über Ihre Affäre mit David Henry informiert sind.«
»Verstehe«, sagte ich schließlich. Es war wohl naiv von mir gewesen, anzunehmen, dass niemand an der New England University von meiner aufregenden Vergangenheit gehört hatte.
»Ich erzähle Ihnen das nicht, um Sie zu beunruhigen, und verurteile Sie auch nicht deswegen. Sie sollten wissen, dass ich während des Einstellungsverfahrens mit Professor Hawthorden in Harvard gesprochen habe. Er hat nur Gutes über Sie gesagt – trotzdem habe ich ihn gefragt, ob Ihre Beziehung zu David Henry ihm oder anderen Fakultätsmitgliedern irgendwelche Schwierigkeiten bereitet hätte. Doch er meinte, Sie seien diesbezüglich sehr diskret gewesen.«
»Das ist Vergangenheit, Professor«, unterbrach ich ihn. »Und ich hoffe sehr, dass mein Ruf an dieser Fakultät nicht von einer absoluten Privatangelegenheit abhängt, über die ich niemals mit irgendjemandem gesprochen habe. Und die keinerlei Einfluss auf meine Doktorarbeit hatte.«
»Die hervorragend benotet wurde«, sagte er. »Ich würde Ihnen diese Stelle auch nicht anbieten, wenn ich das nicht wüsste, und ich gehe davon aus, dass diese Art Beziehung passé für Sie ist und sich nicht wiederholen wird.«
»Was mit Professor Henry war, wird sich niemals wiederholen, Sir.«
Und wieder wurde ich mit einem der grundlegendsten Gesetze im Leben konfrontiert: Die Schatten der Vergangenheit sind dein ständiger Begleiter. Wenn du Glück hast, nimmst nur du sie wahr. Aber wenn das sorgsam Geheimgehaltene plötzlich publik wird, sieht die Schatten jeder, und sie machen dich verdächtig.
Professor Sanders kam zu dem Schluss, dass meine Beteuerungen einen Versuch wert waren. Gleich darauf sagte er mir, dass ich die Stelle hätte – vorausgesetzt, ich könnte bereits am kommenden Montag beginnen.
»Kein Problem, aber ich muss wissen, worüber Frau Holder Vorlesungen hielt.«
Noch am selben Nachmittag wurde ich in Deborah Holders Büro begleitet. Es sah aus, als würde darin immer noch gearbeitet. Als ich mit Professor Sanders in der Tür stand, nahm ich als Erstes die vollgestopften Bücherregale wahr, entdeckte Erstausgaben von Emily Dickinson und Sinclair Lewis, Papierstapel, ein gerahmtes Poster mit dem Plan der Pariser Metro und ein Schwarzes Brett voller Fotos. Lauter Familienschnappschüsse. Deborah Holder war eine hübsche Frau mit zurückgebundenen Haaren und einem sympathischen Lachen gewesen. Wenn die Bilder nicht trogen, hatte sie am liebsten Shetlandpullis und Jeans getragen, genau wie der bärtige Mann in den Dreißigern, der mit ihr auf zahlreichen Fotos zu sehen war. Dann war da noch ihr kleiner Sohn, dessen Entwicklung von mehreren Schnappschüssen dokumentiert wurde. Der letzte zeigte ihn im Alter von etwa vier Jahren, die Arme um eine mittlerweile ganz blasse, ausgemergelte Mutter geschlungenen,
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